Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Das letzte Gefecht
Auf einer Alm im Bregenzerwald haben sich deutsche Soldaten sieben Tage nach der Kapitulation des Reiches einen Kampf mit französischen Besatzungssoldaten geliefert – Es gab Tote
AU - Das Drama am 15. Mai 1945 beginnt mit einer simplen Gebirgsjagd weit oberhalb von Au, einem Dorf im Bregenzerwald: „Ein hoher französischer Offizier der Besatzungsmacht wollte eine Gams und dann einen Auerhahn schießen“, berichtet der stämmige, in die Jahre gekommene Bergbauer Hermann Rüf von Erinnerungen seines Großvaters. „Dabei sah einer seiner Begleiter durchs Fernglas unbekannte deutsche Soldaten, die Waffen bei sich hatten.“Zu diesem Datum überhaupt nicht mehr statthaft. Deutschland hatte am 8. Mai bedingungslos kapituliert.
Die Entdeckung des französischen Offiziers hat ungeahnte Folgen. Zwei Tage nach seinem Pirschgang sind neun Menschen tot. Gut ein Dutzend Almhütten inklusive einer St.Michaels-Kapelle haben sich in glühende Trümmer verwandelt. Und dies alles, weil sieben Tage nach der deutschen Kapitulation nochmals die Waffen sprechen, versprengte Soldaten von Wehrmacht sowie SS mit französischen Patrouillen aneinandergeraten. Es ist das womöglich letzte Gefecht des Zweiten Weltkriegs auf europäischem Boden.
Wo Rüf steht, befindet sich ein Hauptschauplatz der Ereignisse: die 1210 Meter hoch gelegene Bergweide Boden. Alpe sagen die alemannischen Vorarlberger zu solchen Almen. Der Bergbauer ist an diesem kalten, mit Neuschnee bescherten Morgen hochgefahren, um mit einem Freund seine Hütte auf Vordermann zu bringen. Wenn demnächst das Jungvieh auf die Weide kommt, soll der Hirte über den Alpsommer hinweg wieder einziehen.
Die Hütte ist übrigens Teil der historischen Ereignisse. „Damals wurde auch sie von den Franzosen niedergebrannt“, erzählt Rüf. „Und die dort, und die nächste, ebenso jene auf der anderen Talseite“, sagt er, während seine Hand über die Gegend zeigt. Eigentlich eine Idylle, die sich über bereits saftige Wiesen und Bergwald bis zum Bergstock des 2403 Meter hohen Zitterklapfens erstreckt. Wie konnte sie aber im Mai 1945 noch nach dem Kriegsende zur Hölle werden?
Zum Verständnis ist Kenntnis der Vorgeschichte wichtig. In den letzten Kriegswochen zeigen die deutschen Verbände in Südwestdeutschland Auflösungserscheinungen. Überall dringen Franzosen und Amerikaner vor. Vielerorts lautet deshalb die Parole aufseiten der Deutschen: Rette sich, wer kann. Andererseits sind noch einige geschlossen agierende Kampfgruppen der SS unterwegs, nach wie vor mit fanatischer Nazigesinnung in den Kommissköpfen.
Jedenfalls strömen Teile der geschlagenen Armee am Bodensee vorbei Richtung Vorarlberger Berge – die einen, um unversehrt zu bleiben und vielleicht der Kriegsgefangenschaft zu entgehen. Jene mit weniger Verstand, aber mit mehr Hitler-Verehrung, denken jedoch an ein letztes Bollwerk des Widerstands:
die von der eigenen Propaganda ins Leben gerufene sogenannte Alpenfestung. Sie ist zwar nur eine weitere Lüge des Regimes. Aber mancher möchte sie glauben.
In der Folge füllen sich auch die Täler des Bregenzerwaldes mit deutschen Soldaten. Fluchtwillige unter ihnen haben Pech. Der Hochtannbergpass als einziger Ausweg Richtung Tirol ist unpassierbar, weil tief verschneit. Die Deutschen sitzen in der Sackgasse, weshalb der französische Oberbefehlshaber Jean de Lattre de Tassigny seine Truppen nur gemächlich nachstoßen lässt. Zwei ihrer Kompanien aus marokkanischen Kolonialsoldaten erreichen Au erst am 10. Mai, dem Himmelfahrtstag – kurz nach dem
Kirchgang, wie es in der Ortschronik heißt.
Eine deutsche Kommandostelle unter Generalleutnant Ludwig Merker hat sich zuvor in Gefangenschaft begeben. Von diesem Wehrmachtsoffizier ist aber einige Tage früher eine Entscheidung gefällt worden, die das Drama in den Bergen wohl erst ermöglichte. Die Tragik dabei: Offenbar will Merker selber nur unbeschadet davonkommen und Kämpfe vermeiden. Dem steht aber eine größere Zahl junger Soldaten entgegen: Schüler aus der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt Rottweil, einer Nazi-Kaderschmiede. Sie sind als letztes Aufgebot militärisch ausgebildet worden und in SS-Mäntel geschlüpft.
Merker befiehlt im Tal bei Au ihre Entwaffnung. Das Kriegsmaterial wird in einer Hütte der BodenAlm gelagert. Gleichzeitig schickt der General die Burschen inklusive Verpflegung auf eine benachbarte Hochweide, die Gräsalper. Ins „Landschulheim“, wie eines seiner überlieferten Worte besagt. Dies alles ergibt sich aus Unterlagen, die der gegenwärtige Auer Heimatpfleger Roland Moos zur Verfügung stellt: Gendarmerie-Protokolle sowie Augenzeugenberichte aus der Nachkriegszeit. Aus ihnen geht auch konkret hervor, was fortan geschieht. „Es sind die schlimmsten Ereignisse in der Geschichte von Au“, sagt Ortshistoriker Moos. General Merker hat durch das Hinaufschicken der jungen Soldaten unabsichtlich den Boden dafür bereitet. Sie brauchen für eine Wiederbewaffnung bloß zur Nachbaralm ins Materialdepot zu schleichen. Ein tödlicher Fehler.
Wobei den Franzosen grundsätzlich bewusst ist, dass sich versprengte Deutsche in irgendwelchen Berghütten verbergen. Moos wertet das Versteckspiel so, „dass die jungen Männer einfach auf eine Chance warteten, sich in ihre Heimat zurückschleichen zu können“. Jene Deutsche, die sich am 15. Mai den Kolonialsoldaten aus Marokko entgegenstellen, gehören jedoch nicht zu dieser eher friedfertig gewordenen Kategorie. Das zeigt sich rasch, als die Franzosen eine Patrouille in die Berge schicken, um die Sichtung der bewaffneten Deutschen vom Vortag abzuklären.
Ein nicht namentlich bekannter Augenzeuge, vermutlich der einheimische Jagdgehilfe des weidmännisch tätigen französischen Offiziers, berichtet in einem archivierten Protokoll: „Ich musste mit dem Gendarm Bader und 15 Marokkanern in das vordere Gräsalper Vorsäß.“Gemeint ist damit jener Almbereich, in dem die besagten Deutschen aufgefallen sind. Im Bericht steht weiter: „Gendarm Bader ging mit einigen Marokkanern den Wald hinauf, von wo er Beschuss erhielt. Er erwiderte das Feuer und traf einen deutschen SS-Soldaten tödlich.“
Schließlich kommen auch der Augenzeuge und die bei ihm verbliebenen französischen Kolonialsoldaten unter Beschuss. „Dabei wurde ein Marokkaner von einer Handgranate getötet“, heißt es niedergeschrieben. Die Eskalation ist da. Am Nachmittag steigen 50 weitere Kolonialsoldaten zur benachbarten Boden-Alpe auf. Per Zufall schneiden sie flüchtenden Deutschen den Weg ab. Zwei ihrer Gegner schießen die Marokkaner sogleich nieder und nehmen sie gefangen.
Zwei weitere Deutsche fallen ihnen auf dem Gräsalper in die Hände.
In den zeitgenössischen Berichten ist von SSAngehörigen die Rede. Weitere Deutsche rennen in die Wälder, ergeben sich die nächsten Tage.
Indes zünden die Marokkaner alle Almhütten der Gegend an. „Als Vergeltung für den Tod des marokkanischen Unteroffiziers“, vermeldet der Gendarmeriebericht des Postens Au. In ihm wird noch auf eine gruselige Entdeckung nach den Bränden hingewiesen. Demnach haben sich drei Deutsche zusammen mit einem Maschinengewehr unter den Stallbrücken eines AlmQuartiers verschanzt: „Diese drei SS-Leute konnten, als die Marokkaner diese Hütte in Brand steckten, nicht mehr flüchten und sind dort verbrannt.“
Das Gefecht ist damit vorbei, der Schrecken noch nicht. Jetzt geht es um die vier während der Schießerei mit den Marokkanern gefangen genommenen Deutschen, darunter laut Pfarrarchiv zwei 18-Jährige. „Unsanft“seien sie ins Tal geschleift worden, ist in Berichten zu lesen. Unten kommen sie zur französischen Kommandantur im Gasthof Krone. Dessen Kühlraum wird ihr kurzzeitiges Gefängnis. Gleichzeitig tagen die französischen Offiziere. Standgericht, ganz im Einklang mit damaligem Kriegsrecht.
Worum es geht, ist klar: Freischärlerei, Partisanentum. Das Verhalten der Gefangenen legt nahe, wie einst vom NS-Regime propagiert, als „Werwölfe“aus dem Hinterhalt gegen Besatzungstruppen kämpfen zu wollen. Das mögliche Urteil? Tod. Darauf entscheiden die Franzosen.
Zum Abend hin tritt hinter der Krone das Erschießungskommando an. Zwei der Deutschen nehmen vom örtlichen Pfarrer die Absolution an. Die anderen beiden wollen keinen geistlichen Beistand. „Einer der Soldaten grüßte noch vor der Erschießung mit dem Hitlergruß Heil Hitler“, hat die Zeitzeugin Paula Natter überliefert. Kurz darauf sind die Exekutierten bereits auf dem benachbarten Friedhof beerdigt. Dort liegen sie noch immer in ihrem Grab hinter der Kirche.
Ob alle vier tatsächlich bei der SS waren, ist nicht ganz klar. Für einen Leutnant scheint dies bestätigt zu sein, die anderen könnten auch Wehrmachtssoldaten gewesen sein. Sehr befremdlich wirkt heutzutage aber die alte, auf die Nachkriegszeit zurückgehende Inschrift auf dem Grabkreuz: „Sie starben im Mai 1945 in Au nach treu erfüllter Soldatenpflicht.“
„Die sind doch für nichts gestorben“, meint Rüf vor seiner Almhütte auf der Boden-Alpe. Deren Gebäude wurden wieder aufgebaut. Die gegenüberliegende Hochweide Gräsalper existiert nicht mehr. „Wald hat sie überwuchert“, sagt Rüf. Neben seiner Hütte wartet das Gasthaus Bergkristall darauf, dass es nach den Lockerungen der CoronaMaßnahmen aufmachen kann. Bald wird die Alm wieder den Wanderern gehören. „Und dem Vieh“, ergänzt Rüf. An den 15. Mai vor 75 Jahren erinnert nur eine Tafel in der neu erstandenen St.Michaels-Kapelle. Die Erfahrung der vergangenen Jahre lehrt: Kaum jemand, der mit Gipfelzielen des Weges kommt, schaut in den geweihten Raum herein.