Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Schritt eins auf einem langen Weg
Im US-Bundesstaat New York beginnt die gestaffelte Lockerung der Corona-Beschränkungen
NEW YORK (dpa) - Joe McHarris hat wieder Hoffnung. Von diesem Freitag an darf er seinen kleinen Kunstladen im Dorf Clinton nördlich von New York City wieder öffnen. Fast zwei Monate musste „Artisans’ Corner“in der Corona-Krise geschlossen bleiben, der Umsatz brach um 90 Prozent ein. Einige Künstler, die bei ihm verkaufen, hätten sehr gelitten, erzählt Joe McHarris. Doch nun soll es wieder besser werden: Der US-Bundesstaat New York beginnt nach fast 30 000 Todesfällen mit der Lockerung der Beschränkungen. Der „nächste große Schritt dieser historischen Reise“, sagt Gouverneur Andrew Cuomo. Und ein unvergleichlicher Kraftakt – ganz besonders für die heftig getroffene Millionenmetropole New York City.
„Das ist sehr vielversprechend für mich, zur gleichen Zeit aber auch beunruhigend“, sagt Ladenbesitzer McHarris. Er ist sich noch nicht sicher, ob New York wirklich schon aus dem Gröbsten raus ist. Auf der anderen Seite sei es wichtig, dass er wieder öffnen könne. Schicksale von mehr als 30 Künstlern hingen an ihm. In den kommenden Tagen darf er nun wieder aus dem Geschäft heraus verkaufen – und wenn alles gut geht, bald danach seine Türen ganz aufmachen.
Die Öffnung startet mit kleinen Schritten. Die zehn Regionen im 20-Millionen-Einwohner-Staat New York müssen dafür sieben Voraussetzungen erfüllen. Wichtig ist zum Beispiel, dass im Schnitt nicht mehr als zwei von 100 000 Bewohnern pro Tag ins Krankenhaus gebracht werden, eine bestimmte Zahl freier Notfallbetten gegeben ist und genügend Tests gemacht werden. Erst wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, darf eine Region mit der ersten Phase beginnen. Am Freitag werden das wohl vier ländliche Regionen im Norden des Bundesstaates – weit weg von der Metropole New York – sein. In den Gebieten Finger Lakes, Southern Tier, North Country und im Mohawk Valley dürfen dann Bauarbeiten wieder aufgenommen werden und Handwerker wieder arbeiten – und Läden wie „Artisans’ Corner“mit dem Straßenverkauf starten.
Wenn eine Region konstant alle Kriterien erfüllt, kommt sie nach zwei Wochen gewissermaßen ein Level weiter und tritt in Phase zwei ein. Dann können Geschäfte ihre Verkaufsräume wieder öffnen, auch eine Reihe von Angestellten im Finanzund Versicherungssektor dürfen wieder ins Büro. Nach wenigstens zwei weiteren Wochen ohne Komplikationen können in der dritten Phase Restaurants wieder öffnen und am Ende, in der vierten Phase, wieder Theater, Museen, Schulen und Universitäten.
Eine Verzögerung – oder ein Rückschritt in eine vorhergehende Phase – ist immer möglich, das entscheiden regionale Gremien. „Wir leben in ständiger Angst vor einer zweiten Infektionswelle“, sagt Gouverneur Cuomo – und zeigt auf seine tiefen, dunklen Augenringe.
„Ich habe wirklich das Gefühl, dass wir auf einem langen Weg sind“, sagt auch Kelly Blazosky. Sie ist die Präsidentin der Tourismusbehörde im Bezirk Oneida nördlich von New York. Auch wenn die erste Phase jetzt beginnt, werde die Branche noch lange leiden. Zuerst rechnet Kelly Blazosky mit Gästen aus den umliegenden Gebieten. Wann wieder Besucher aus dem Ausland kämen, sei völlig unklar. Trotzdem seien die Maßnahmen nötig gewesen: „Menschen kann man nicht ersetzen, das ist also das Wichtigste.“
300 Kilometer weiter südlich sieht die Lage ganz anders aus. Die dicht besiedelte Millionenmetropole New York erfüllt von den sieben Voraussetzungen zum Beginn der phasenweisen Lockerung derzeit gerade einmal vier. Die Zahl der neuen Patienten pro Tag ist deutlich zu hoch, und es gibt noch nicht ausreichend freie Klinikbetten. Das bedeutet für die stets im Scheinwerferlicht der Welt stehende Metropole: weiter warten. „Wir sind ganz offensichtlich noch nicht so weit“, sagt Bürgermeister Bill de Blasio. „Die Wahrscheinlichkeit – wenn kein Wunder geschieht – ist, dass das Juni werden wird.“
Wenn die Öffnung im Juni aber gerade erst startet, dann – davon sind inzwischen immer mehr New Yorker überzeugt – wird die Großstadt wohl noch monatelang gelähmt bleiben. Der Dachverband der BroadwayTheater kündigte schon an, dass bis mindestens Anfang September keine Shows gespielt werden. Opern und Orchester haben ihre normalerweise bis zum Sommer laufenden Programme eingestellt.
Die Schulen waren sowieso schon bis zu den Sommerferien geschlossen worden – und es gebe Überlegungen, dass auch danach nur eingeschränkt unterrichtet werden könne, sagt die Psychologin einer Privatschule in Manhattan. Sie verbringe die Krise bei ihren Eltern in New Jersey, sagt die 31-Jährige. „Mir geht es gesundheitlich gut, und ich habe noch meinen Job, ich bin also sehr privilegiert. Bei vielen meiner Schüler sehe ich, dass dieser Zustand sehr schwierig für sie ist, das macht mir große Sorgen – vor allem, wenn das jetzt noch länger und länger so bleiben wird. Ansonsten habe ich eigentlich nur ein Luxusproblem: Ich vermisse Manhattan und seine tolle Energie.“
Alle New Yorker hätten in der Krise Großartiges geleistet, lobt Gouverneur Cuomo. „Wir waren wirklich in einer schlimmen Lage – aber wir haben die schlimmste Lage des ganzen Landes zum Besseren gewandelt. Wenn wir das nicht gemacht hätten, hätten wir die Situation in Italien im Vergleich aussehen lassen wie einen Spaziergang im Park.“Italien wurde in Europa besonders heftig von der Corona-Pandemie getroffen.
Jetzt dürfe es nicht nur eine einfache Wiedereröffnung geben – sondern New York müsse an der Krise wachsen, sagt Andrew Cuomo. „Ich glaube, es wird eine alles umfassende Neubewertung geben – und ich glaube, wir werden dadurch besser werden, individuell und kollektiv.“