Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Auf Augenhöhe
Sommerausstellung im Kunstmuseum Lindau zeigt Gemälde des Künstlerpaares Modersohn-Becker
LINDAU - Zu Lebzeiten war er der Star, der für seine Bilder gute Preise erzielte, heute ist sie die bekannte Künstlerin. Das Malerpaar Otto Modersohn (1865-1943) und Paula Modersohn-Becker (1876-1907) führte Anfang des 20. Jahrhunderts eine moderne und inspirierende Beziehung, die für die damalige Zeit außergewöhnlich war. Das Kunstmuseum Lindau widmet den beiden seine diesjährige Sommerausstellung „Paula & Otto – Kunst und Liebe im Aufbruch“. Rund sechs Wochen später als geplant ist die Schau seit heute für das Publikum geöffnet. Zwölf Personen sind in den Räumen aufgrund der Corona-Vorgaben vorerst maximal zugelassen, auch ein Mundschutz ist Pflicht. Mit Schlangen an der Kasse muss man wohl rechnen, denn es gibt keine Online-Tickets mit Zeitfenster. Trotz allem: Es geht nichts über das Original, besonders wenn Bilder so stimmig wie hier präsentiert werden.
„Wundervoll ist dies wechselseitige Geben und Nehmen; ich fühle wie ich lerne an ihr und mit ihr. Unser Verhältniß ist zu schön, schöner als ich je gedacht, ich bin wahrhaft glücklich, sie ist eine echte Künstlerin, wie es wenige gibt in der Welt, sie hat etwas ganz seltenes“, schreibt Otto Modersohn am 15. Juni 1902 in sein Tagebuch. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits ein gutes Jahr mit Paula Becker verheiratet. Die beiden hatten sich in der Künstlerkolonie Worpswede kennen- und lieben gelernt. Tatsächlich war es Otto, der als Erster die große Begabung seiner Frau erkannte. Er förderte sie und ermöglichte ihr nicht zuletzt auch finanziell ein Leben als Malerin, während die meisten ihrer Kolleginnen spätestens nach der Hochzeit den Traum vom Künstlerdasein aufgeben und sich um Haushalt und Kinder kümmern mussten.
Anfangs ist die elf Jahre jüngere Paula noch so etwas wie seine Schülerin. Die Malerin ist begeistert von seinen stimmungsvollen Landschaften in erdigen Farben. Sie arbeiten häufig gemeinsam in der freien Natur,
manchmal sogar vor demselben Motiv. Doch während Otto stets sehr erzählerisch und detailgetreu malt, vereinfacht sie die Formen und reduziert die Bildtiefe. In Lindau ist dieser unterschiedliche Ansatz besonders gut an zwei Bildern eines reizenden Mädchens mit Hut zu erkennen, die nebeneinander hängen.
Paula emanzipiert sich dann zunehmend von ihm. Die Motive und die Farbpalette in Naturtönen bleiben zwar oft die gleichen, aber künstlerisch geht das Paar immer weiter auseinander, bis auch er sich von ihr inspirieren lässt. Anschauliche Beispiele dafür gibt es viele in der Ausstellung, die 50 Gemälde von Paula und Otto in sieben Themenräumen versammelt: von den niedlichen Laternenkindern über das pralle Schützenfest in Worpswede bis zur dramatischen Gewitterlandschaft.
Vor allem durch ihre Parisaufenthalte kommen andere, avantgardistische Einflüsse dazu. Paul Cézanne macht einen gewaltigen Eindruck auf die junge Frau. In dem bekannten farbintensiven „Stillleben mit Goldfischglas“
von 1906 etwa lässt sich Paula bewusst auf dessen Bildaufbau mit plastisch drapiertem Tischtuch ein. Ihr Mann Otto beginnt dagegen erst mehr als zehn Jahre später zu abstrahieren und sich für die Moderne zu öffnen.
Viermal zieht es Paula auf der Suche nach Inspiration in die französische Hauptstadt. Monatelang lebt sie dort allein und hat ihr eigenes Atelier. Die häusliche Idylle in Worpswede ist ihr zu eng geworden, das Leben dort zu monoton, die Ehe ein ständiges Auf und Ab. Otto lässt ihr diese Freiheiten – was damals alles andere als üblich war. Zugleich kämpft er um seine Frau, während sie in Paris in einen Schaffensrausch gerät. Es entstehen Meisterwerke der modernen Malerei, die „in Komposition und Abstraktionsgrad ihrer Zeit weit vorauseilen“, wie Sylvia Wölfle im Katalog schreibt. Ein Blickfang in Lindau aus dieser kreativen Phase ist der Halbakt „Mutter mit Kind an der Brust“von 1906, der Einflüsse von Paul Gauguin erkennen lässt. „Ich bin ich und hoffe, es immer mehr zu werden“, schreibt sie in einem Brief an die Eltern. Finanziell geht es der Künstlerin allerdings schlecht, ihre Bilder verkaufen sich nicht. Schließlich kehrt Paula zu ihrem Mann und Ermutiger zurück, bis ihr Leben wenige Tage nach der Geburt ihrer Tochter Mathilde im November 1907 ein abruptes Ende nimmt.
Kuratorin Sylvia Wölfle hat die Exponate aus öffentlichen und privaten Sammlungen kundig und thematisch stimmig gehängt. Inzwischen eilt Lindau der Ruf voraus, dass die Kunst hier professionell präsentiert wird, entsprechend großzügig haben sich viele Leihgeber gezeigt, darunter das Von-der-Heydt-Museum in Wuppertal. Das Spannende an der Schau ist die Gegenüberstellung der beiden malerischen Ansätze und Persönlichkeiten, sodass nachvollziehbar wird, wie sich das Paar gegenseitig beflügelt hat. Erstmals kommen Screens zum Einsatz, die neben Hintergrundwissen auch Fotografien und Zitate aus Briefen oder Tagebüchern der beiden Künstler einblenden. Eine gute Ergänzung, um dem Besucher diese Aufbruchstimmung in Kunst und Liebe nahezubringen.