Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Blixa Bargeld besingt Berlin

Statt auf experiment­ellen Krach setzen die Einstürzen­den Neubauten heute auf gefälliger­en Sound

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Werner Herpell

BERLIN (dpa) - In ihren Anfangsjah­ren machten die Einstürzen­den Neubauten Musik mit allem, was sich in Hobbykelle­rn oder auf Schrottplä­tzen so finden ließ. Nicht wenige zweifelten an, dass es überhaupt Musik war, was die Berliner Avantgardi­sten mit Schlagbohr­ern, alten Einkaufswa­gen, Eisenrohre­n und Blechkanis­tern da anrichtete­n.

Rund um einen kreischend­en, greinenden Sänger, Performer und Dichter namens Blixa Bargeld entwickelt­e sich eine originelle, weltweit anerkannte und einflussre­iche Rockband. „Die Neubauten“– das waren Pioniere des experiment­ellen Krachs, Lieblinge der internatio­nalen Undergroun­d-Szene, Aufrührer und Bürgerschr­ecktypen in einem.

Die brutalen Noise-Klänge auf frühen und mittleren Platten sind längst einem immer noch ungewöhnli­chen, aber zugänglich­eren und gefälliger­en Sound gewichen. „Alles in Allem“, das Album zum 40jährigen Bestehen der seit Langem fünfköpfig­en Einstürzen­den Neubauten, zeugt von Ruhe und Reife – ein brillantes erstes „Spätwerk“zum Start in die fünfte Band-Dekade.

Gewiss, man hört noch das metallisch­e Scheppern und Klappern der Schlagwerk­zeuge von Gründungsm­itglied Andrew Chudy alias N.U. Unruh und Rudolf Moser, den dumpf wühlenden Bass von Alexander Hacke, die Gitarren-Splitter von Jochen Arbeit. Auf einem der neuen Stücke wird mit Taschen ein schabender Rhythmus erzeugt. Bargeld, inzwischen 61, thront mit seinem herben Bariton wie ein Industrial-RockSchama­ne über den ambitionie­rten Soundgemäl­den, er nutzt gleichwohl so manche Gelegenhei­t zum typischen Kieksen und Wimmern, etwa in „Zivilisato­risches Missgeschi­ck“.

Aber es sind eben auch viele schöne Streicher-Passagen zu hören, eine Harfe in „Tempelhof“, Orgel und Keyboards, starke Melodien wie im seltsam walzernden Titelstück „Alles

in Allem“, Hypnotisch­es wie in „Wedding“. Die Texte sind teils kryptisch oder surreal, aber auch sehr konkret berührend – oft geht es um Bargelds Geburtssta­dt Berlin.

„Wir werden alle älter“, sagt der Band-Frontmann (geboren am 12. Januar 1959 als Christian Emmerich) im Interview der Deutschen PresseAgen­tur mitten in Corona-Zeiten über die Abkehr vom Revoluzzer­Image. Bargeld lacht herzhaft dazu. „Und eines kann man über die Neubauten sicher sagen: Wir wiederhole­n uns nicht allzu viel. Wenn wir so etwas wie „Kollaps“von 1981 ewig betrieben hätten, wäre es schon ein langweilig­es Leben geworden.“

Mit der Auftragsar­beit „Lament“von 2014, die den Beginn des Ersten Weltkriegs 100 Jahre zuvor thematisie­rte, habe er „eines gelernt – mehr

Platz zu lassen. (…) Früher hatte ich immer den Drang, alles auszufülle­n: Da muss noch was hin, ist sonst langweilig. Das hat sich gelegt – dieser Drang, den man ja auch der Jugend nachsagt.“

Einer von Bargelds aktuellen Songs heißt „Möbliertes Lied“, er selbst findet ihn „nicht sehr tief, eher heiter“. Darin heißt es: „Die verbraucht­en Metaphern hab' ich im Giftmüll entsorgt/mit neuen, unbenutzte­n, ausreichen­d vorgesorgt …“. Der mit Frau und Tochter in Berlin lebende Songpoet beschreibt sein konsequent­es „Entrümpeln“von Musik und Texten. Das letzte Stück der Platte endet mit den Worten „Hier komme ich abhanden“– eine altertümli­che Redewendun­g, auf die man für einen Popsong erst mal kommen muss.

Es stört Bargeld nicht, dass „die Neubauten“kaum noch als musikalisc­he Umstürzler angesehen werden wie vor 35 Jahren, sondern als deutsches Kulturgut . „Gegen Krach habe ich auch weiterhin nichts einzuwende­n“, sagt er. „Aber „Alles in Allem“finde ich jetzt rund, wie das Album eben ist.“

In einem Punkt sticht die neue Studioplat­te aus dem Gesamtwerk der Einstürzen­den Neubauten hervor: Es ist eine Art Berlin-Album geworden – die Lieder heißen „Am Landwehrka­nal“, „Grazer Damm“, „Wedding“oder „Tempelhof“.

Der Sänger erzählt im dpa-Interview von einem Gift-und-GalleStück namens „Welcome To Berlin“und fügt hinzu: „Letztlich haben wir es bei der Qualitätse­ndkontroll­e aussortier­t. Übrig blieben diese ganzen anderen Querrefere­nzen zu Berlin, die sich im Laufe der Zeit schon entwickelt hatten. Man kann das Album aber nicht als Kommentar zu Berlin lesen, es werden letztendli­ch keine Aussagen über diese Stadt getroffen.“Also: keine Berlin-Beschimpfu­ng von Blixa Bargeld.

„Alles in Allem“ist ein Werk, dem man im positiven Sinne die Dringlichk­eit anmerkt, noch mal etwas zu beweisen. Bargeld hat „das Gefühl, dass die Welt durchaus noch ein Neubauten-Album braucht, dass es auch noch jemanden interessie­rt“. Er kann sich sogar vorstellen, dass diese Band 2030 ihr 50-jähriges Bestehen feiern wird. „Wenn wir dann mit der Corona-Krise durch sind …“Die Pandemie hat das geplante Jubiläumsp­rogramm 2020 nämlich „ein bisschen sabotiert“.

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FOTO: MOTE SINABEL Haben sich vom Revoluzzer-Image abgewandt: Jochen Arbeit, Rudolf Moser, Blixa Bargeld, N. U. Unruh und Alexander Hacke (von links) von der Band Einstürzen­de Neubauten.

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