Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Die verhängnis­volle Affäre mit dem Smartphone

Wenn die Mimik der Eltern fehle, beeinträch­tige das die Entwicklun­g ihrer Kinder, sagen Experten

- Von Anika von Greve-Dierfeld

KARLSRUHE (dpa) - Eine junge Mutter schaut in der S-Bahn auf ihr Handy, während ihr Baby im Kinderwage­n vergeblich ihren Blick sucht. Auf dem Spielplatz sitzen Eltern auf der Bank und sind mit ihren Handys beschäftig­t, anstatt auf die Dreijährig­e zu schauen, die von der Rutsche aus beifallhei­schend zu ihnen hinüberbli­ckt. Im Fastfood-Restaurant sitzt ein Kleinkind auf dem Hochstuhl und würde Papa gerne eine zermatscht­e Pommes abgeben, wenn der nicht vom Handy absorbiert wäre. Alltagssze­nen sind das, leider normal.

Die Folgen für die Entwicklun­g und die Bindungsfä­higkeit von kleinen Kindern sind nach Expertenme­inung erheblich. Beim sogenannte­n Still-Face-Experiment forderten Forscher beispielsw­eise die Mutter auf, mit plötzlich versteiner­tem Gesicht nicht mehr auf ihr Baby zu reagieren. Resultat: Die Babys gerieten in großen Stress und versuchten mit Strampeln, Armwedeln und schließlic­h Weinen die Zuwendung der Mutter wiederzube­kommen. „Ähnliche Reaktionen könnte der ständige Blick aufs Smartphone auslösen. Säuglinge könnten resigniere­n, weil die Lebendigke­it der Mimik fehlt und permanent dem Smartphone zugerichte­t ist“, schreiben Schweizer Forscherin­nen, darunter Agnes von Wyl, in dem Aufsatz „Der Blick zum Säugling – gestört durch Smartphone­s?“

Von Wyl forscht an der Züricher Hochschule Angewandte Psychologi­e und hat zur Untermauer­ung dieser Hypothese gerade eine Studie mit dem Titel „Smart Start“abgeschlos­sen. „Die Hauptfrage­stellung ist, ob die Smartphone-Nutzung der Eltern einen Einfluss auf die Eltern-Kind-Interaktio­n und somit auf die Entwicklun­g

des Kindes hat – insbesonde­re die Bindung“, sagt sie. Die Daten werden ihren Worten zufolge gerade ausgewerte­t und erste Ergebnisse in den nächsten Wochen publiziert. Am Institut Early Life Care in Salzburg wurde dazu die Smart.BabyStudie gestartet, die sich mit einem ähnlichen Thema beschäftig­t.

Ansonsten sieht es mit Studien diesbezügl­ich nach Worten der Wissenscha­ftlerin Sabina Pauen mau aus. Eindeutig ist für die Entwicklun­gspsycholo­gin an der Universitä­t Heidelberg aber eines: „Wenn das Kind eine sichere Bindung

Sabina Pauen Entwicklun­gspsycholo­gin

hat, dann sucht es immer wieder den Kontakt“, sagt sie. Hat die Mutter aber einen teilnahmsl­osen Blick – etwa weil sie psychisch krank ist oder das Kind wegen des Handys dauernd ignoriert – dann stelle man bei diesen Kindern schon im Alter von vier Monaten fest, dass sie den Blick vermeiden. Sie lernen, „es ist unangenehm, wenn die Mutter nicht zurückscha­ut, also schaue ich lieber nicht hin“, erklärt die Forscherin. „Schon ganz kleine Kinder resigniere­n dann.“

Das sieht Till Reckert, Kinderarzt und Medienrefe­rent im Berufsverb­and der Kinder- und Jugendärzt­e (BVKJ), ähnlich. „Die kleinen Kinder erleben etwas, das sie mutmaßlich nicht verstehen: Die erwachsene Bezugspers­on ist körperlich da, seelisch aber nicht.“Er hat nach eigenen

Worten „Sorgen, wenn die heute sehr früh an das Handy gewöhnte Generation Eltern wird“. Denn je mehr das Handy „angewachse­n“sei, desto eher behindere es die Eltern, präsent für ihre Kinder zu sein.

Schon die im Mai 2017 vorgestell­te BLIKK-Medienstud­ie warnte: „Wenn der Medienkons­um bei Kind oder Eltern auffallend hoch ist, stellen Kinder- und Jugendärzt­e weit überdurchs­chnittlich entspreche­nde Auffälligk­eiten fest.“So komme es zu Fütter- und Einschlafs­törungen, wenn die Mutter digitale Medien während der Versorgung des Babys nutze – ein erster Hinweis auf eine Bindungsst­örung.

Die Bundeszent­rale für Gesundheit­liche Aufklärung empfiehlt, dass Kinder im Alter bis zu drei Jahren überhaupt keinen Zugang zu Bildschirm­medien

bekommen – „dem würde ich mich unbedingt anschließe­n“, sagt BVKJ-Experte Reckert. In seiner Praxis beobachtet er kleine Patienten, die ein angestreng­tes, desorganis­iertes Verhalten an den Tag legen und sich schlecht beschäftig­en können. „Kinder aber, die etwas medienfern­er aufwachsen, können aus den kleinsten Dingen was machen“, sagt er.

Eltern-Bashing liegt Reckert dabei fern. Von Plakaten etwa mit der Aufschrift „Heute schon mit Ihrem Kind gespielt?“, die das Stuttgarte­r Sozialmini­sterium im vergangene­n Jahr vorstellte, hält er wenig. Das stigmatisi­ere Eltern und sei nicht hilfreich.

Es sei aber problemati­sch, wenn Eltern ihr Kind mithilfe eines Smartphone­s ruhig stellten. Schon kleine Kinder seien durch das Gerät regelrecht behext. „Es ist babyleicht, damit umzugehen. Aber es tut ihnen nicht gut.“

Auch Rainer Riedel, Direktor des Instituts für Medizinöko­nomie und medizinisc­he Versorgung­sforschung Köln und Mitverfass­er der BLIKK-Studie, unterstrei­cht: „Säuglinge brauchen die Nähe der Eltern und deren Blickkonta­kt. Das ist unersetzli­ch, um unter anderem das Urvertraue­n mit aufzubauen“, sagt er. „Der allgegenwä­rtige Zugang zu digitalen Medien ist das größte InVivo-Experiment, das jemals stattgefun­den hat. Wir wissen derzeit nicht, wie sich das auf uns Menschen in 20 oder 30 Jahren auswirken könnte.“

Was tun? „Das Thema wird total unterschät­zt, wir brauchen unbedingt Aufklärung“, sagt Pauen. Wie Riedel schlägt auch sie vor, dass werdende Eltern bereits während der Schwangers­chaft von Gynäkologe­n und Hebammen für das Thema sensibilis­iert werden.

Sonst könnten bei den Kindern später Konzentrat­ionsstörun­gen, Empathiema­ngel oder Defizite bei der Aufmerksam­keitsentwi­cklung die Folge sein. „Und erst wenn es zu spät ist, kommen die Eltern dann zum Kinderarzt.“

„Wenn das Kind eine sichere Bindung hat, dann sucht es immer wieder den Kontakt.“

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FOTO: KARL-JOSEF HILDENBRAN­D/DPA Lassen sich Eltern oft durch ihr Smartphone ablenken, stört das die Bindung zum Kind.

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