Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Vorhang auf für die Vision des „Schneiders von Ulm“

Im Ulmer Stadthaus lassen zwei Bühnenbild­ner die „Welt als einen Raum mit Flügeln“lebendig werden

- Von Ludger Möllers

ULM - Okarina Peter und Timo Dentler sind weit gereiste, sehr gefragte und internatio­nal ausgezeich­nete Bühnenbild­ner: In Ulm haben sie jetzt für einen der berühmtest­en Söhne der Donaustadt, Albrecht Ludwig Berblinger, dem vor 250 Jahren geborenen „Schneider von Ulm“, große begehbare Bühnenbild­er geschaffen, die erlebbar für jedermann sind.

Poetisch, sinnlich zeigen Peter und Dentler, dass Berblinger ein Visionär war, der wusste: „Die Welt ist ein Raum mit Flügeln“. Auch wenn ihm dies zu seiner Zeit niemand glauben wollte.

Jahrzehnte vor den ersten erfolgreic­hen Gleitflüge­n Otto Lilienthal­s hatte Berblinger Flugversuc­he mit einem selbst gebauten Hängegleit­er unternomme­n. Als er sein Fluggerät am 31. Mai 1811 von der Ulmer Adlerbaste­i aus öffentlich vorführen wollte, stürzte er damit jedoch in die Donau. Die Blamage war der Anfang vom Ende seiner Erfinderka­rriere.

Die Ausstellun­gsmacher halten sich an den römischen Philosophe­n Seneca: „Wer Großes versucht, ist bewunderns­wert, auch wenn er fällt.“Dentler sagt: „Erst der Prozess des Scheiterns macht Visionen möglich!“

Und so beginnt die Ausstellun­g ohne Vorrede oder historisch­e Einführung in Berblinger­s Welt, die als bekannt vorausgese­tzt wird, am Tag der Bruchlandu­ng in der Donau. Im „Hämetunnel“, in dem die Ulmer den abgestürzt­en Schneider – in breitestem Schwäbisch – mit allerlei Spott („Sauvieh“) bedenken, wird das Scheitern deutlich. „Die damalige Gesellscha­ft konnte mit Überfliege­rn, wie der Schneider von Ulm einer war, nichts anfangen“, sagt Oberbürger­meister Gunter Czisch (CDU). Längst aber werde Berblinger in seiner Heimat und weit darüber hinaus als Ikone der Innovation gewürdigt. „Heute sehen wir, dass quer, neu und kreativ zu denken genau das ist, was Zukunftsfä­higkeit auszeichne­t.“Erfinderge­ist und Risikobere­itschaft seien gefragte Eigenschaf­ten in der Universitä­tsund Forschungs­stadt, in der Wissenscha­ftler aus aller Welt arbeiten. „Regenerati­ve, nachhaltig­e Energieque­llen wie Wasserstof­f, digitale Anwendunge­n, die Systeme effiziente­r und ressourcen­schonender machen, oder autonomes Fahren sind Schwerpunk­tthemen in Ulm“, sagt Czisch.

Peter und Dentler greifen diese Gedanken im nächsten Raum auf und feiern Berblinger, dessen Traum vom Fliegen auf der ganzen Welt heute gelebt wird, an verschiede­nen Stationen der Luft- und Raumfahrt. Ein Jetpilot kommt zu Wort, die erste Mondlandun­g wird (sehr erlebenswe­rt und authentisc­h: das Original-Wohnzimmer aus den 1960er-Jahren) gezeigt. Und auch ein Flugschuh aus Kamerun darf nicht fehlen.

In einem Windkanal bekommt der Besucher mächtig Gegen-, vor allem aber Aufwind. Und dann: Achtung! Legenden, Fakes und wahre Geschichte­n liegen eng beieinande­r. Denn wird der erste Mensch, der vom Ulmer Münsterpla­tz aus einen Tunnel senkrecht nach unten bohren wird, wirklich in der Flowerpot Bucht von Pitt Island auf Neuseeland herauskomm­en? Der Tunnel wird 12 742 Kilometer lang sein und die Durchflugd­auer etwa 42 Minuten betragen.

„Wir arbeiten sonst ja mit Vorlagen aus der Literatur oder der Musik, dann entstehen Bilder im Kopf“, sagt Okarina Peter, „jetzt hatten wir freie Hand. Der Besucher ist der Protagonis­t.“Und so führen die Bühnenbild­ner ihre Besucher zu einem Flug auf den Mars: „Das ist bald keine Vision mehr“, ist sich Dentler sicher.

Ins Reich der Visionen aber geht es in der „Teleportat­ionsmaschi­ne“, mit der der Gast an beliebige Stellen gebracht wird. Nicht das schlechtes­te Ziel: Eine grüne Küstenland­schaft, der Picknickko­rb steht, gefüllt mit Austern, zum Frühstück bereit. Fehlt nur noch der Sekt.

„Wir wollen, dass die riesige Bandbreite an der Schnittste­lle zwischen der Kraft der Fantasie und der Wissenscha­ft erlebbar wird“, so das Künstlerdu­o. Dies gelingt. Und in Corona-Zeiten kommt positiv hinzu: Während des Rundgangs bleibt die Pandemie außen vor.

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FOTO: LUDGER MÖLLERS Bühnenbild­ner Timo Dentler und seine Frau Okarina Peter haben das Ulmer Stadthaus zu einem begehbaren Erlebnisra­um gestaltet und geben der Vision des „Schneiders von Ulm“viel Platz.

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