Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Kinderärzte sind entsetzt über Ravensburger Kollegen
25 Mediziner distanzieren sich öffentlich von Äußerungen auf „Grundrechte-Demo“
RAVENSBURG (sz/vin) - Die Kinderund Jugendärzte in der Region Bodensee/Oberschwaben distanzieren sich von ihrem Ravensburger Kollegen Jochen Welte, der am vergangenen Samstag auf der sogenannten „Demonstration zur Wahrung der Grundrechte“an der Oberschwabenhalle als Redner aufgetreten ist. Welte hatte dabei sinngemäß gesagt, ein gutes Immunsystem werde mit dem neuen Coronavirus fertig.
Unter anderem fragte er wörtlich: „Wie viele alte Menschen, die in Altenheimen nicht mehr an die frische Luft dürfen, bringen wir durch den Lockdown ihres Immunsystems um?“
Darüber sind seine Kollegen entsetzt, sie empfinden die Äußerungen als zynisch den Todesopfern gegenüber und als gefährlich, da ja gerade alte Menschen gefährdet sind, besonders schwer an Covid-19 zu erkranken oder daran zu sterben. Der Obmann der regionalen Kinder- und Jugendärzte, Frank Kirchner aus Vogt, sagte der „Schwäbischen Zeitung“: „Wir wollen unseren Kollegen nicht denunzieren und keinen Grabenkrieg. Aber die Äußerungen sind nicht zu ertragen. Uns niedergelassene Kinderärzte hat es erschreckt, dass auf diesen Demonstrationen im ganzen Land – auch von Ärzten – medizinische Halbwahrheiten und Ideologien verbreitet werden.“
Im Namen der etwa 25 kassenärztlichen Kinder- und Jugendärzte im Kreis Ravensburg hat Wolf Gröner aus Ravensburg-Weißenau eine gemeinsame Stellungnahme zur Haltung der Kinderärzte zur Corona-Krise geschrieben. Darin heißt es unter anderem: „Wir haben derzeit in unseren Praxen eigentlich genug zu tun. Etwas weniger durch die üblichen saisonalen Infekte (diese sind durch die Schließung der Kindergärten und Schulen derzeit deutlich eingedämmt), als vielmehr durch die Aufrechterhaltung der normalen kinderärztlichen Versorgung durch Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen und die Begleitung chronischer Erkrankungen, erschwert durch die notwendigen der Pandemie geschuldeten Vorgaben des Infektionsschutzes: Maskenpflicht, Trennung der Wartezimmer, strikte Planung der Patienteneinbestellung etc. Aber wir sind Ärzte und stehen trotz der Erschwernisse unserer Arbeit hinter den derzeit geforderten Maßnahmen, weil wir sie für richtig halten. Es ist schwierig und ermüdend, auch in der Praxis auf populistisch gemischte Halbwahrheiten reagieren zu müssen, die derzeit zunehmend Verbreitung finden.“
Und weiter: „Es ist zynisch zu behaupten, dass alte Heimbewohner durch Freiheit, Luft und Sonne durch Stärkung ihres Immunsystems vor diesem unbekannten Virus geschützt werden könnten – genau dort ist die Bombe erbarmungslos eingeschlagen. Und überhaupt: unser Immunsystem. Es ist das komplizierteste, noch am wenigsten bekannte Regelwerk unseres Körpers.“Die Wirkung des neuen Sars-CoV2Erregers auf das menschliche Immunsystem sei genauso wenig bekannt wie vor 30 Jahren HIV – und wie viele Jahre habe es gedauert, Aids einigermaßen in den Griff zu bekommen, fragt Gröner.
Dann geht er auf Weltes Schwärmerei ein, in Schweden, wo Restaurants und Schulen auf blieben, seien die Menschen besser dran als in Deutschland mit der Maskenpflicht und den anderen Einschränkungen. „Eine unkontrollierte Durchseuchung der Bevölkerung mit einem unbekannten Virus ohne Wissen um die Folgen ist ethisch nicht vertretbar“, schreibt Gröner. Der Blick auf den bis vor Kurzem lockeren Umgang in anderen Ländern wie in
Schweden und der Schweiz zeige ein anderes Bild: Die Sterberate in Schweden (bei hochmodernem Gesundheitssystem) liege derzeit bei 3300 verstorbenen Patienten auf zehn Millionen Einwohner, dreimal höher als in Deutschland.
Auch die Diskussion um einen Impfstoff oder eine (bisher von niemandem ausgesprochene) Impfpflicht sei müßig. „Seit dem ersten Sars-Ausbruch 2003 versuchen chinesische Wissenschaftler, einen Impfstoff herzustellen, dessen Eigenschaften auch erst mal erforscht werden müssen – es wird also noch ein Weilchen dauern.“
Die Kinderärzte appellieren daran, weiterhin Masken zu tragen, um andere zu schützen. „Es gibt derzeit viele Halbwahrheiten, die eine bislang ziemlich solidarische Gesellschaft spalten können und so Raum schaffen für Verschwörungstheorien und politische Umwälzungen.“