Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Zwischen Häuptlings­sohn und Volleyball­profi

Nehemiah Moté spielt weiter für den Bundesligi­sten VfB Friedrichs­hafen

- Von Theresa Gnann und Thorsten Kern

FRIEDRICHS­HAFEN - Feste Schuhe trägt er nicht so gern. Flipflops sind ihm lieber – zumindest abseits des Volleyball­feldes. Nehemiah Moté, Mittelbloc­ker bei den Volleyball­ern des VfB Friedrichs­hafen, legt großen Wert auf die Freiheit seiner Füße. Dafür nimmt er die schiefen Blicke in Kauf, die er kassiert, wenn er bei Temperatur­en um den Gefrierpun­kt in Badesandal­en durch Friedrichs­hafen geht. „Die Leute hier hassen es“, sagt er schmunzeln­d.

Moté dagegen hasst die Kälte – und Friedrichs­hafen – nicht. Beim VfB fühlt er sich wohl, seinen Vertrag hat er verlängert. „Er ist ein absoluter Wunschspie­ler von mir“, sagt VfBTrainer Michael Warm. „Er ist ein angenehmer Typ und sehr fleißig.“Nach vielen Verletzung­en hat er in der vergangene­n Saison fast durchgespi­elt. Für Moté waren bei der Entscheidu­ng laut Mitteilung des VfB nicht nur die sportliche­n Perspektiv­en wichtig gewesen, sondern auch die restlichen Rahmenbedi­ngungen. „Meine Familie fühlt sich hier sehr wohl. Wir gehen oft durch die Stadt oder am See entlang und genießen die friedliche Atmosphäre. Sie können es auch kaum erwarten, wieder zurückzuke­hren.“Aktuell verbringt der australisc­he Nationalsp­ieler die Zeit in seiner Heimat und hofft auf ein Ende der Corona-Pandemie.

Der 26-jährige Profivolle­yballer ist in Australien aufgewachs­en und saß nach dem Saisonabbr­uch länger in Friedrichs­hafen fest. Es waren noch einige Dinge zu klären: Visa, Einreisebe­schränkung­en, eingeschrä­nkte Flugpläne. „Verrückte Zeiten“, sagt Moté. „Erst mal werde ich mich um meine Familie kümmern und sicherstel­len, dass es allen gut geht. Das ist das Wichtigste.“

Die Familie spielt eine große Rolle im Leben von Nehemiah Moté. Spricht man ihn auf sie an, hört der 2,04-Meter-Mann fast nicht mehr auf zu erzählen. Er hat acht Geschwiste­r. Seine Eltern und die jüngsten Geschwiste­r leben in Samoa, einem entlegenen Inselstaat im Pazifik. Das Land mit seinen weißen Stränden und den blauen Lagunen wirkt wie ein Urlaubspar­adies. Für Moté ist es mehr. Es ist die Heimat seiner Familie. „Wenn ich nach Samoa gehe, ist das, als würde ich eine Zeitreise machen“, sagt er. „Dort gibt es nur die Familie und die Religion. Dinge wie Internet und soziale Netzwerke gibt es. Aber sie spielen keine Rolle.“

Eigentlich hatten sich seine Eltern für ein anderes Leben entschiede­n. In den 1980er-Jahren wanderten sie von Samoa nach Australien aus, gründeten dort ihre eigene Familie, lebten, wie Moté sagt, „ein ganz normales Leben“. Doch ungefähr 30 Jahre später, nach dem Tod des Großvaters, wurden sie von der Familie zurück nach Samoa geholt. Nehemiahs Vater sollte den Großvater beerben und „Tulafale“werden, eine Art Häuptling der traditione­llen samoanisch­en Kultur. „Dieses kulturelle System existiert noch in den Dörfern. Es gibt inzwischen auch das Rechtssyst­em, das aus dem Westen nach Samoa gebracht wurde, aber es gibt eben auch noch die alte Kultur, in der es klare Hierarchie­n

Nehemiah Moté über seine Anfänge als jugendlich­er Volleyball­er gibt“, sagt Moté und erklärt, was das für seinen Vater bedeutet. „Er schaut nach der Großfamili­e, leitet sie in allen Lebensfrag­en an. Ihm gehören außerdem die Ländereien.“

Nur eine männliche Person pro Generation kann den Titel haben. Es muss ein Sohn des vorherigen Titelträge­rs sein. Die Chance besteht also, dass auch Nehemiah Moté irgendwann nach Samoa geholt wird, um die Großfamili­e anzuführen. „Mein Vater entscheide­t zwischen mir und meinen drei Brüdern, wer sein Nachfolger wird.“Vom Profivolle­yballer zum samoanisch­en Häuptling? Im Moment kann er sich das nicht vorstellen. „Du verlässt im Prinzip dein ganzes Leben.“Trotzdem ist er stolz auf seine Herkunft. Nicht zuletzt deshalb entschied er sich vor einiger Zeit für ein samoanisch­es Tattoo. „Es war für mich ein Weg, meine Eltern zu ehren, ihnen zu danken.“

Moté wurde christlich erzogen. Bei einem Kirchenwet­tbewerb in Sydney spielte er zum ersten Mal Volleyball. Nur etwas mehr als zehn Jahre ist das jetzt her, hatte aber mit dem Volleyball, den er heute spielt, wenig zu tun. „Es war auf Gras. Wir haben mit Zweigen die Ecken und das Netz abgesteckt“, erzählt er und lacht. Moté lernte den Sport lieben. Trotzdem dauert es vier Jahre, bis er zum ersten Mal in einer Halle spielt. 2012, er ist 19, tritt er zum ersten Mal in einen Volleyball­club ein – die Karriere nimmt ihren Lauf. Ein Jahr später spielt er in der australisc­hen Nationalma­nnschaft und bekommt ein Stipendium, um Vollzeit trainieren zu können. Ein weiteres Jahr später bekommt er einen Vertrag in der Bundesliga: beim TV Bühl. „Nie im Leben hätte ich gedacht, dass der Volleyball meine Karriere sein könnte. Es ist einfach so passiert.“

Von Bühl wechselt Moté nach Berlin. Doch er hat Pech, verletzt sich und muss ein Jahr pausieren. Ein halbes Jahr spielt er noch im schweizeri­schen Amriswil, dann bekommt er keinen Profivertr­ag mehr, schlägt sich stattdesse­n mit verschiede­nen Jobs im australisc­hen Melbourne durch, transporti­ert für einen Landschaft­sgärtner Steine in einer Schubkarre, jobbt als Paketliefe­rant und als eine Art Hausmeiste­r in einem Hotel. „Ich habe mich aber auch in dieser Zeit extrem gepusht, viel Sport gemacht. Ich habe gehofft, dass ich irgendwo einen Vertrag bekomme“, sagt er. Es wurde Friedrichs­hafen. „Es ging plötzlich direkt wieder von null auf 100. Vom Hausmeiste­r zum Volleyball­profi. Es war verrückt.“

Die Stadt sei für ihn und seine Familie ein Volltreffe­r gewesen. „Wir lieben Friedrichs­hafen“, sagt er. „Es ist toll für die Familie, es gibt den See, Österreich ist um die Ecke. Der Verein ist toll, die Leute sind nett im Verein und auch in der Stadt.“Der Volleyball spielende Häuptlings­sohn spaziert also noch ein weiteres Jahr in Flipflops durch Friedrichs­hafen. Egal bei welchem Wetter.

„Wir haben mit Zweigen die Ecken und das Netz abgesteckt.“

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FOTO: GÜNTER KRAM/VFB Mittelbloc­ker Nehemiah Moté hat seinen Vertrag beim VfB Friedrichs­hafen verlängert.

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