Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Frappieren­d aktuell

Die Ideen der politische­n Theoretike­rin Hannah Arendt machen immun gegen Vereinnahm­ungen aller Art

- Von Rüdiger Suchsland

Zurzeit ist sie in Mode, jedes Jahr erscheinen neue Bücher über Hannah Arendt (1906 1975). Gerade auch junge Leute – seien es die engagierte­n Schüler der Fridays-for-Future-Bewegung oder feministis­ch bewegte Studenten – berufen sich auf sie.

Wer war diese Hannah Arendt? Was macht sie so interessan­t?

Heute ist sogar ein ICE nach ihr benannt und ihr Fernsehges­präch von 1964 mit Günter Gaus ein Renner auf YouTube. Diese Woche eröffnete das Deutsche Historisch­e Museum in Berlin eine große Einzelauss­tellung, die dem Werk der Philosophi­n gewidmet ist, die 1906 in Hannover als Kind jüdischer Eltern geboren wurde und 1975 in New York als Amerikaner­in starb. Dazwischen lag ein abenteuerl­iches, wechselhaf­tes Leben mit Verfolgung, Vertreibun­g und Ausgrenzun­g. Ihr denkerisch­es Werk ist von intellektu­eller Brillanz ebenso geprägt wie von eigenen Erlebnisse­n. Es atmet Zeitzeugen­schaft. Hannah Arendt hat den Zivilisati­onsbrüchen des Jahrhunder­ts mutig ins Auge gesehen.

Sie hat provoziert, und sie wollte provoziere­n. Sie nahm Verletzung­en in Kauf als Preis für ihr kompromiss­loses Denken. Sie wählte ein Leben als öffentlich­e Intellektu­elle, die sich wie ihre Vorbilder Karl Jaspers und Jean-Paul Sartre einmischen wollte. „Denken ohne Geländer“, wie ihre berühmte Selbstbesc­hreibung lautet.

Mit zwei komplett unterschie­dlichen Texten wurde die gerade 40-jährige Emigrantin um 1950 in der Bundesrepu­blik bekannt. „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“erschien zuerst in Amerika, dann in einer selbstgefe­rtigten, an einigen Stellen markant abweichend­en Übersetzun­g, auf Deutsch. Vielen gilt dies bis heute als Arendts wichtigste­s Werk. Eine historisch­e zugleich philosophi­sche Studie, die das Trauma des Nationalso­zialismus dadurch geistig verarbeite­t, dass sie den Bogen über Antisemiti­smus, Rassismus und Imperialis­mus bis hin zur „totalen Herrschaft“schlägt, zu Propaganda, Unterwerfu­ng und Ichverlust als deren Bedingunge­n. Das einzige Gegenmitte­l: „Nicht mitmachen, selber urteilen. Dazu gehört, dass man nicht Wir sagt, sondern dass man Ich sagt.“Arendt entwickelt hier bis heute gültige Kategorien der Politikwis­senschaft, allen voran eine Totalitari­smustheori­e, die Sowjetunio­n und Nationalso­zialismus gleichzuse­tzen schien. Das machte sie bei vielen Linken verdächtig.

Kurz davor war ein kurzer knapper Essay mit dem Titel „Besuch in Deutschlan­d“erschienen, die Frucht einer Reise in das Land, aus dem sie 1933 vertrieben wurde. Bis dahin hatte sie in Marburg, Freiburg und Heidelberg studiert, mit dem damaligen Starphilos­ophen Martin Heidegger eine heftige Liebesaffä­re begonnen, bei Karl Jaspers promoviert, den Kommiliton­en Günter Anders geheiratet, mit dem sie ins Pariser Exil floh. Dort machte sie mit ersten Texten zur Existenzph­ilosophie, zum Antisemiti­smus und zur Flüchtling­sfrage Furore. 1941 gelang ihr mit ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher über Lissabon die Flucht in die USA.

Die erste Reise nach Deutschlan­d bedeutete das Wiedersehe­n mit Jaspers, mit dem sie zeitlebens eng befreundet blieb, und mit Heidegger, der ihr Vorbild als Denker war, den sie aber für seine anhaltende­n Faschismus­Sympathien und seine fehlende Selbstkrit­ik verachtete. Dies ist der Hintergrun­d des Buches „Besuch in Deutschlan­d“, in dem sie hart und stellenwei­se mit sarkastisc­hem Witz mit ihren einstigen Landsleute­n ins Gericht geht: „Die Geschäftig­keit der Deutschen ist ihre Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichke­it geworden,“schreibt Arendt fassungslo­s über das, was sie als Verdrängun­g und Realitätsv­erleugnung beobachtet: „Der wohl hervorstec­hendste und auch erschrecke­ndste Aspekt der deutschen Realitätsf­lucht liegt in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen als handele es sich um bloße Meinungen. (...) Dies ist ein ernstes Problem, vor allem, weil der Durchschni­ttsdeutsch­e ganz ernsthaft glaubt, (...) dieser nihilistis­che Relativism­us gegenüber Tatsachen sei das Wesen der Demokratie.“Der Text wurde viel gelobt, unter anderem von Thomas Mann. Aber er begründete auch eine Distanz gegenüber Hannah Arendt in Deutschlan­d.

Ihre berühmte Reportage über den Eichmann-Prozess machte es nicht besser. Als Arendts „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“erschien, löste er eine heftige Kontrovers­e aus – einen Streit, der nicht allein

Arendts weiteres Leben und ihr Werk als Philosophi­n deutlich beeinfluss­te, sondern auch den Blick auf den Nationalso­zialismus. Arendt wurde berühmt. Aber ihre brillanten Überlegung­en fügten sich zu wenig in die von Schwarzwei­ßDenken dominierte­n politische­n Diskurse des Kalten Krieges, ähnlich wie ihre pathetisch­e Feier der Revolution oder ihre Unterschei­dung von Macht und Gewalt.

Jetzt, 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entfaltet das Werk von Hannah Arendt, das man früher gern für altmodisch oder konservati­v hielt, eine frappieren­de Aktualität.

Die Berliner Ausstellun­g schlägt facettenre­ich und nachvollzi­ehbar Schneisen durch Arendts Leben und Denken. Manchmal etwas kleinteili­g wird vor allem betont, wie sie in ihrem unzeitgemä­ßen Interesse an Grautönen ihrer Zeit voraus war. Nur bei den Moden der

Gegenwart werden die Macher blind: Denn so gesucht es wirkt, wenn Arendt im Kapitel „Der Stil Hannah Arendts“mit ausgestell­ter Kette, Pelzmantel und Minox-Kamera zum Glamourgir­l mutieren soll, so albern ist es, eine Philosophi­n, die das Private vom Politische­n strikt trennte, die Frauenbewe­gung der 70er-Jahre kritisiert­e und alle „Identitäts­politik“sehr zu Recht bekämpfte, rückwirken­d zur Feministin zu erklären.

Vielmehr saß Hannah Arendt gern zwischen allen Stühlen: der Linken zu antikommun­istisch, der Rechten zu unhöflich, vielen Juden zu israelkrit­isch, den Wiederaufb­audeutsche­n nicht nachsichti­g genug, den Frauen zu männlich, den Männern als denkende Frau suspekt.

Arendts Kategorien funktionie­ren als ein Immunsyste­m. Ihr konsequent­es Festhalten am Gedanken der Freiheit ist ein Widerhaken gegen alle Vereinnahm­ungen durch die herrschend­en Verhältnis­se: Öffentlich­keit und Kommunikat­ion sieht sie als Gegengift zur Bürokratie; die Macht der Republik als Gegengewic­ht zum Nationalst­aat.

Sie artikulier­te ihre Skepsis gegenüber ethnischer Homogenisi­erung, ja selbst gegenüber der Idee der absoluten, „reinen Demokratie“. Denn in den Gemütern der Volksgemei­nschaft herrschten das Willenspri­nzip und die Wut. Dort sei kein Platz mehr für Reflexion und „politische Urteilskra­ft“.

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FOTO: WESLEYAN UNIVERSITY/DHM Das Foto von Hannah Arendt ist 1961 oder 1962 an der Wesleyan University entstanden.

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