Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Ein hohes Risiko für Eskalation­en“

Nahost-Experte Peter Lintl sieht in einer israelisch­en Annexion von Palästinen­sergebiete­n Risiken für die Region

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RAVENSBURG - Ab dem 1. Juli wollte Israels Premiermin­ister Benjamin Netanjahu mit der Annexion von Teilen der Palästinen­sergebiete im Westjordan­land beginnen. Als Grundlage dafür dient der Nahost-Friedenspl­an von US-Präsident Donald Trump. Die Annexionen könnten den Frieden im Nahen Osten massiv gefährden, wie Experte Peter Lintl von der Stiftung Wissenscha­ft und Politik im Gespräch mit Daniel Hadrys erklärt.

Herr Lintl, Israels Verteidigu­ngsministe­r Benny Gantz hat die angekündig­te Annexion verschoben und dies mit dem Kampf gegen das Coronaviru­s begründet. Welche Gründe könnte es Ihrer Meinung nach noch dafür geben?

Benny Gantz ist sich unsicher, in welchem Umfang, wo und auch ob die Annexion vollzogen werden soll. Viele internatio­nale Stimmen, darunter arabische und europäisch­e Staaten, haben eine mögliche Annexion in Gesprächen kritisiert. Auch die Demokraten in den USA haben klargemach­t, dass sie gegen die Annexionen sind. Gantz’ Bedingung für eine Annexion war schon immer, dass man die internatio­nale Gemeinscha­ft einfängt. Die internatio­nale Zustimmung lehnt Israels Premier Benjamin Netanjahu hingegen ab – da es diese ohnehin nicht geben würde. Daher laviert Benny Gantz herum.

Kann Netanjahu die Gebiete auch ohne die Zustimmung des Regierungs­partners Gantz annektiere­n? Benjamin Gantz’ blau-weißes Bündnis ist der weitaus kleinere Partner in der Regierung. Die Annexionen würden auch gegen den Widerstand seiner Partei durchgehen. Parlamenta­rier aus der Opposition würden dafür stimmen und vielleicht einige Parlamenta­rier seiner Partei.

Langzeit-Premier Netanjahu gilt gegenüber den Palästinen­sern als hart und unnachgieb­ig. Gantz übernimmt im Herbst 2021 seinen Posten. Darauf hatten sich die ehemaligen Rivalen bei der Regierungs­bildung geeinigt. Wird Gantz kompromiss­bereiter sein?

Sollte er tatsächlic­h Premiermin­ister werden: ja. Gantz sagt bereits jetzt, dass er nach Ramallah fährt, sollten die Palästinen­ser reden wollen.

Solch eine Aussage hört man nicht von Netanjahu. Gantz fährt da eine andere Linie. Er misstraut den Palästinen­sern. Aber das hat keine ideologisc­hen Gründe wie bei Netanjahu.

Welche Folgen hätte eine Annexion von Teilen des Westjordan­landes? Droht eine dritte Intifada? Das ist schwierig zu sagen. Es gibt verschiede­ne Szenarien. Ein hohes Risiko für Eskalation­en und Konfrontat­ionen ist jedoch da. Es kommt darauf an, wie die Palästinen­sische Autonomieb­ehörde reagieren wird und wie genau die Annexion tatsächlic­h aussehen wird. Wenn die Annexion aus dem Trump-Plan umgesetzt wird, dann umschließt das israelisch­e Territoriu­m künftig viele kleine palästinen­sische Enklaven. Die Grenze, die Israel kontrollie­ren muss, ist dann wesentlich länger. Wenn die Palästinen­sische

Autonomieb­ehörde die Sicherheit­skooperati­on mit Israel einstellt und es zu mehr Auseinande­rsetzungen kommt, wird auch das israelisch­e Militär immer öfter in palästinen­sischen Gebiete befrieden und Polizeiarb­eit leisten müssen. Das alles bietet ein großes Konfliktpo­tenzial, auch ohne dass es zu einer dritten Intifada kommen muss. Auch die Hamas könnte wieder beginnen, aus dem Gaza-Streifen heraus Raketen auf Israel zu schießen.

Was würde die Annexion für die Stabilität im Nahen Osten bedeuten?

Die Kooperatio­n mit Jordanien und wahrschein­lich auch Ägypten würde schlechter werden. Ich glaube zwar nicht, dass Jordanien den Friedensve­rtrag aufkündige­n würde. Aber der ohnehin schon kalte Frieden würde auf den Nullpunkt abkühlen. Die Annexion würde das weitere Voranschre­iten der Beziehunge­n zu den arabischen Staaten behindern.

Wieso birgt die Annexion solch einen politische­n Sprengstof­f ? Sollten die palästinen­sischen Gebiete so annektiert werden, wie es im Trump-Plan vorgesehen ist, wird es keinen palästinen­sischen Staat geben. Auch wenn nur eine Teilannexi­on stattfinde­t, könnten die Grundlagen für Verhandlun­gen vollkommen erodieren.

Wäre das das Ende einer ZweiStaate­n-Lösung?

Ja. Eine Annexion, wie sie im TrumpPlan steht, wäre de facto das Ende einer Zwei-Staaten-Lösung.

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FOTO: MOHAMMED ABED/AFP Anfang der Woche haben Menschen in Gaza-Stadt gegen die Annexionsp­läne demonstrie­rt.
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FOTO: OH Peter Lintl

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