Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Staatliche Autorität wird nicht mehr anerkannt“
Polizeipräsident Uwe Stürmer zur brutalen Attacke auf einen Beamten und Rassismusvorwürfen gegen die Polizei
RAVENSBURG - Fast symbolhaft für die Krawalle von Stuttgart in der Nacht zum 21. Juni stehen mittlerweile die Bilder von einem jungen Mann, der einem Polizisten mit Anlauf in den Rücken tritt. In Ravensburg hat sich am Sonntag etwas ähnlich Brutales abgespielt: Ein Verdächtiger rammt einem Beamten bei einer Kontrolle sein Knie an den Kopf und verletzt ihn schwer. Die Kripo ermittelte zunächst wegen eines versuchten Tötungsdelikts gegen den 29 Jahre alten Türken, der inzwischen in Untersuchungshaft sitzt. Frank Hautumm hat mit Polizeipräsident Uwe Stürmer über Gewalt gegen Polizisten, mögliche Parallelen zwischen Stuttgart und Ravensburg, über Solidarität mit Ordnungshütern und Rassismusvorwürfe gegen die Polizei gesprochen.
Ein brutaler Angriff gegen einen Polizisten, bei dem Versuch, einen Mann festzunehmen: Das ist kein Einzelfall in der Region Oberschwaben, wenn man auf die Polizeistatistik blickt. Wie hat sich Gewalt gegen Polizisten in den letzten Jahren in Ihrem Bereich entwickelt?
Gewalt gegen Polizeibeamte hat leider auch im Bereich des Polizeipräsidiums Ravensburg im Schnitt der letzten Jahre kontinuierlich zugenommen. Auch wenn die Zahlen schwanken, zeigt die Tendenz deutlich nach oben: 2010 waren es 201 Fälle, 2019 schon 304. Das entspricht einer Zunahme in zehn Jahren um mehr als 50 Prozent. Es sind aber nicht nur die Fallzahlen, die zunehmen. Auch die Brutalität der Angriffe steigt nach unserer Wahrnehmung deutlich. Selbst wenn diese Einschätzung subjektiv ist und ich keine konkreten Zahlen nennen kann, ist festzustellen, dass Polizeibeamte nach Angriffen immer öfter zumindest zeitweilig dienstunfähig sind. Ich sage es ganz deutlich: Jeder Angriff auf Polizeibeamte ist ein Angriff auf unseren Rechtsstaat und unsere Demokratie – und ist nicht tolerierbar, egal wie schwer die Folgen sein mögen. Zur Überprüfung, ob eine polizeiliche Maßnahme rechtmäßig ist oder war, steht jedem der Rechtsweg offen. Das Recht vor Ort selbst in die Hand zu nehmen, sich gegen das Einschreiten zu wehren und Beamte körperlich anzugreifen, ist absolut inakzeptabel und muss konsequent geahndet werden.
Die Schilderung des Vorgangs in Ravensburg vom Sonntag erinnert fatal an die Ereignisse in Stuttgart vor eineinhalb Wochen, speziell an das Video von einem Tritt von hinten: Polizisten werden von einer größeren Menge junger Männer umringt. Bei dem Versuch der Festnahme kommt es zu einer brutalen Attacke. Sehen Sie Parallelen zu dem, was sich in Stuttgart ereignet hat?
Jeder Angriff auf einen Polizisten muss zunächst einmal für sich betrachtet werden. Daher möchte ich keine vorschnelle Parallele zu den Vorfällen in Stuttgart ziehen. Was indes beiden Fälle gemein ist: Sie zeigen plastisch die zunehmende Brutalität, dass die Hemmschwelle oft völlig fehlt und Gewalt gegen Polizeibeamte nicht nur auf Ballungsräume beschränkt ist. Nach meinem Eindruck ist unsere Gesellschaft auf dem Weg, auseinanderzudriften. Der gesellschaftliche Kitt erodiert. Staatliche Autorität wird offensichtlich in Teilen unserer Gesellschaft nicht mehr anerkannt.
Wäre eine Eskalation im größeren Stil wie in der Landeshauptstadt dann auch in Oberschwaben möglich?
Bis zu diesem Wochenende wurde in Stuttgart eine derartige Eskalation der Gewalt vermutlich ebenfalls für schwer vorstellbar gehalten – bis sie geschah. Daher wird niemand zu dieser Frage eine verlässliche Aussage treffen können. Wir haben aber aktuell keine Erkenntnisse, die auf eine gravierende Zunahme der Aggressivität an bestimmten Hotspots hindeuten würden und Anzeichen für einen derartigen Gewaltausbruch auch bei uns sein könnten.
Haben Sie Probleme an bestimmten Plätzen und Orten?
Natürlich gibt es auch in unserem Zuständigkeitsbereich Orte, an denen sich größere Gruppen aus den unterschiedlichsten Anlässen heraus zusammenfinden. Gerade bei gutem Wetter trifft man sich unter freiem Himmel, um zu feiern. Diese Orte sind uns in der Regel bekannt und stehen entsprechend stärker im Fokus. Alleine von der Größe der Gruppen her sind die Verhältnisse aber nicht mit jenen in Stuttgart vergleichbar.
Woher kommt aus Ihrer Sicht diese wachsende Respektlosigkeit gegen die Polizei, gegen die Obrigkeit im Allgemeinen?
Die Polizei steht im besonderen Fokus der Öffentlichkeit und in der politischen und medialen Diskussion. Nicht selten wird an der Polizei geübte Kritik leider – von bedauerlichen Einzelfällen ausgehend – unreflektiert auf die gesamte Institution ausgedehnt. Gerade nach den Vorgängen in den USA war das gut zu beobachten. Bemerkenswert schnell sind da manche dabei, die Polizei unter Generalverdacht zu stellen. Negatives Verhalten, das es im Einzelfall sicher gibt, wird unreflektiert in den Vordergrund gerückt. Derartige Vorfälle kommen leider vor, sie sind aber sicher die Ausnahme. Im Gegenzug dazu wird das fast immer sehr besonnene und professionelle Einschreiten der Beamten, die bei Konflikten und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen oft im Sinne des Wortes ihren Kopf hinhalten müssen, als selbstverständlich hingenommen.
Wir setzen alles daran, schwarze Schafe in den eigenen Reihen zu identifizieren und konsequent zu sanktionieren. Wir gehen verantwortungsvoll mit unseren Befugnissen um und versuchen, Konflikte zu entschärfen und dabei wo immer möglich die Anwendung von Gewalt zu vermeiden. Manche glauben aber offenbar, dass man auf Biegen und Brechen befugt, ja geradezu aufgefordert sei, sich gegen rechtmäßige Maßnahmen mit allen Mitteln bis hin zu massiver Gewalt zur Wehr zu setzen. Rücksicht, Selbstreflexion oder die Einsicht, im Unrecht zu sein, sind leider zunehmend seltener geworden. Alkohol, Drogen, psychische Erkrankungen, gruppendynamische Prozesse, aber auch kulturelle Einstellungen, nachlassende Erziehungskraft und eine allgemeine Normerosion begünstigen das. Haben Sie Verständnis dafür, dass manche Menschen Unbehagen verspüren, wenn sie resolute Polizeieinsätze beobachten?
Die Polizei hat in unserem Staat das Gewaltmonopol. Das heißt, unsere Beamten dürfen und müssen unter Beachtung des Rechtes von Gesetzes wegen notfalls auch Gewalt anwenden, wenn der Zweck durch mildere Mittel nicht erreicht werden kann. Dies mag im Einzelfall durchaus grob aussehen, stellt aber nicht per se übertriebene Polizeigewalt dar, wie dies bisweilen behauptet wird. Ein Beispiel aus der vergangenen Woche in unserem Gebiet: Ein junger Mann hat eine ältere Frau beim Einsteigen in den Bus beleidigt und schließlich nach ihr getreten. Ein Polizeibeamter in Zivil ging dazwischen, zwei Streifenwagenbesatzungen unterstützten ihn bei der Festnahme des Aggressors, bei dem es sich um den Sohn der Frau handelte. Drei Beamte wurden dabei leicht verletzt. Mitten in den Tumult mischte sich ein unbeteiligter Passant ein, der die Vorgeschichte überhaupt nicht mitbekommen hatte, und fühlte sich bemüßigt, die Beamten verbal anzugehen und bei ihren Aufgaben zu stören.
Nach dem Angriff in Ravensburg wurde wegen eines versuchten Tötungsdeliktes ermittelt. Ist das Auswirkung eines schärferen Vorgehens, oder ist das bei einem Kniestoß gegen den Kopf üblich? Die Einstufung des Delikts wird zu Beginn der Ermittlungen und in Absprache mit der Staatsanwaltschaft vorgenommen. Wer mit seinem Knie mit Anlauf und voller Wucht unvermittelt gegen den Kopf eines Menschen tritt, dem muss klar sein, dass dies zu schwersten bis hin zu tödlichen Verletzungen führen kann. Im Zuge der Ermittlungen wird geklärt, ob sich der Vorwurf so aufrechterhalten lässt. Wofür der Beschuldigte später angeklagt wird, entscheidet die Staatsanwaltschaft. Dies war schon in der Vergangenheit so und hat sich nicht geändert. Die Grenzen zwischen versuchtem Tötungsdelikt und gefährlicher Körperverletzung sind dabei nicht selten fließend.
Viel diskutiert worden ist im Zusammenhang mit den Vorfällen in Stuttgart auch die Rolle von Migranten bei Gewaltdelikten. In der jüngsten Polizeistatistik für das Polizeipräsidium Ravensburg kommen Ausländer bei der Gewaltkriminalität signifikant vor. Wie interpretieren Sie das? Gemessen am Anteil an der Bevölkerung (11,9 Prozent) ist im Zuständigkeitsbereich des Präsidiums Ravensburg der Anteil von ausländischen Tatverdächtigen mit 30,9 Prozent überproportional hoch. Bei der Gewaltkriminalität liegen die Zahlen sogar noch darüber, so beispielsweise bei der gefährlichen Körperverletzung mit 44 Prozent, bei gefährlicher Körperverletzung mit mehreren Tatverdächtigen mit 47,5 Prozent oder gefährlicher Körperverletzung mit einer Waffe oder einem gefährlichen Werkzeug bei 50,2 Prozent. Trotzdem ist es so, dass gemessen an der Anzahl aller Migranten lediglich ein sehr geringer Prozentsatz straffällig wird. Darunter ist aber eine kleine Gruppe von Intensivtätern, die dafür umso öfter auffällt und so einen sehr negativen Eindruck hinterlässt. Zu den möglichen Ursachen einer derart überproportionalen Beteiligung an Gewaltdelikten zählt, dass in bestimmten Ländern und Kulturkreisen Konflikte nicht nach rechtsstaatlichen Grundsätzen gelöst werden, sondern das Recht selbst in die Hand genommen wird. Derartig von klein auf erlernte Verhaltensweisen werden auch bei uns angewandt, mit dem Unterschied, dass hier eben nicht das Recht des Stärkeren gilt, sondern das Gewaltmonopol beim Staat liegt. Letztlich ist für uns aber nicht die Nationalität, die Herkunft, der Pass, das Geschlecht oder was auch immer maßgeblich. Unser Einschreiten orientiert sich schlicht am Verhalten der jeweiligen Person. Das heißt, wer gegen Gesetze und Regelungen verstößt, wird sanktioniert, völlig ungeachtet seiner Herkunft oder seines persönlichen Hintergrundes.
Erleben Sie auch Solidarität von Bürgern, oder ist die Polizei mehr oder weniger in der Rolle des Buhmanns?
In der Öffentlichkeit werden häufig diejenigen wahrgenommen, die sich am lautesten artikulieren, um nicht schreien zu sagen. Nach der jüngsten Forsa-Umfrage rangiert die Polizei an Platz zwei der Berufe, in die die Bevölkerung am meisten Vertrauen setzt, unmittelbar hinter den Ärzten. Dies hat sich im Übrigen in Zeiten von Corona nicht geändert. Wir bekommen immer wieder auch sehr viel Zuspruch, gerade nach derartigen Gewaltvorfällen. Sei es durch Leserbriefe, durch Kommentare zu Postings in unseren sozialen Kanälen, per Mail oder auch persönlich. Dieser Zuspruch kommt bei uns an und tut meinen Mitarbeitern sehr gut – er wird aber in der öffentlichen und medialen Wahrnehmung leider oft eher nur am Rande registriert.
Fühlen Sie sich von der Politik ausreichend gestützt?
Insgesamt ja. Jedenfalls von den gemäßigten politischen Kräften. Die Regierungsfraktionen und auch die oberste Polizeiführung des Landes wissen die Arbeit unserer Kollegen an vorderster Linie sehr wohl zu schätzen und haben gerade nach dem Gewaltausbruch in Stuttgart klargemacht, dass sie der Polizei vertrauen. Dieses Vertrauen brauchen wir auch, und zwar auch aus der Bürgerschaft. Und wir rechtfertigen dieses Vertrauen auch. Wir haben uns von einer obrigkeitsstaatlichen zu einer vom Dienstleistungsgedanken getragenen Polizei gewandelt. Wir investieren viel in die Aus- und Fortbildung, wählen unseren Nachwuchs sorgsam aus, sind auch viel präventiv unterwegs und haben selbst das allergrößte Interesse, fair, rechtmäßig und verantwortungsvoll mit unseren Befugnissen umzugehen. Wo es aber notwendig ist, gehen wir entschlossen und konsequent vor. Konflikte sind unser Tagesgeschäft. Ansonsten empfinde ich es gerade in der öffentlichen Diskussion als problematisch, die offenkundig immer wieder vorkommenden massiven Übergriffe der Polizei in den USA unreflektiert auf die hiesigen Verhältnisse zu übertragen und unserer Polizei strukturell tolerierte Gewalt und Rassismus zu unterstellen.
Wie gehen Sie konkret im Präsidium mit diesen Themen um? Gerade eben sind Ihre Kollegen im Zusammenhang mit der Festnahme des Schlägers wieder als Rassisten beschimpft worden.
Dieser pauschale Vorwurf wird leider immer wieder erhoben, insbesondere, wenn gegen ausländische Mitbürger eingeschritten werden muss. Wie erwähnt, richtet sich unser Einschreiten ausschließlich nach dem Verhalten des Einzelnen. Dass dies verhältnismäßig oft auch gegen ausländische Mitbürger geschehen muss, belegen die genannten Zahlen. Diese haben nichts mit Rassismus zu tun, sondern mit der Tatsache, dass hier überproportional oft entsprechende Straftaten vorkommen. Grundsätzlich nehmen wir Beschwerden bezüglich Polizeigewalt und Rassismus sehr ernst und gehen diesen konsequent nach. Unserer Erfahrung nach stellen sich die Vorwürfe jedoch nach eingehender Prüfung überwiegend als haltlos heraus. Nicht jeder polizeiliche Zwang ist übertriebene Polizeigewalt. Und auch nicht jedes Einschreiten gegen Ausländer lässt sich unter den Rassismus-Vorwurf stellen. Oft werden diese Argumente instrumentalisiert, um die Polizei in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen und Misstrauen gegenüber der Polizei, das in diesen Kreisen sowieso schon weitverbreitet ist, weiter zu schüren. Außerdem sind wir zunehmend divers und haben auch etliche Beamte mit Migrationshintergrund in unseren Reihen. Unser Berufsverständnis lässt für Rassismus, Ungerechtigkeiten oder sinnlose und übertriebene Gewaltanwendung keinen Raum. Wir haben da eine ganz klare Haltung.