Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Hauptsache zeitnah!
Ich bitte Sie, das zeitnah zu erledigen.“Abertausendmal am Tag lässt irgendwo ein Chef diesen Satz los, und ein Untergebener weiß dann, was er zu tun hat. Aber weiß er es wirklich? Eigentlich gibt es auf ein solches Verlangen des Vorgesetzten nur eine sinnvolle Antwort: „Bitte etwas präziser! Meinen Sie mit zeitnah heute noch, morgen, übermorgen, bis Ende der Woche oder wie oder was…?“Doch das sagt natürlich kein Befehlsempfänger, weil er damit seinen Rausschmiss riskieren würde – und zwar zeitnah. Fest steht allemal: Wenige Begriffe im Arbeitsleben, aber auch in der Verwaltung oder in den Medien sind so schwammig wie zeitnah. Und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb hat er als Modewort Karriere gemacht – bis zum Überdruss.
Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutungen und Schreibweisen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.
Was der Chef in unserem Fall wirklich will, ist klar: Er möchte die Sache bald erledigt sehen, schnell, rasch, sofort, unverzüglich, unmittelbar – allesamt Synonyme für zeitnah, aber im Grunde ebenfalls nicht genau definiert. Zeitnah sagt er, weil es seit einigen Jahren alle schick finden, modern, dynamisch, hochprofessionell.
Mit dem Ohr am Puls der Zeit zu sein und – Vorsicht: noch drei Modewörter! – alle Zeitfenster, Zeitpolster oder Zeithorizonte im Blick zu haben, gilt schon als die halbe Miete im Geschäftsleben. Wie papieren-gespreizt das Wort zeitnah allerdings klingt, lässt sich leicht überprüfen: Keine Frau sagt zu ihrem Mann: „Komm heute Abend bitte zeitnah nach Hause!“
Bei einem solchen Begriff lohnt sich ein Blick auf die sogenannte Wortverlaufskurve im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS). Sie ergibt sich beim elektronischen Durchforschen von riesigen Textmengen aus den verschiedensten Quellen und lässt dann Rückschlüsse zu, wie sich ein Wort in puncto Häufigkeit entwickelt hat. Bei zeitnah zeigt sich das erstaunliche Phänomen, dass dieses Adjektiv zwischen 1950 und 2000 zwar einen erheblichen Durchhänger hatte, sich seither aber im ungebremsten Höhenflug befindet und weit häufiger zu hören ist als noch vor 1950. Ein wichtiger Grund könnte auch die enorme Beliebtheit des Begriffs bei Politikern sein. Angeblich soll vor allem der Berliner Bürgermeister Eberhard Diepgen für seinen Aufschwung gesorgt haben. Auf die heikle Frage nach dem Zeitpunkt des Rücktritts des mit ihm befreundeten CDU-Fraktionsvorsitzenden Klaus Landowsky erklärte Diepgen im Jahr 2001: „Die Entscheidung wird zeitnah folgen.“Seither gibt es fast keine Debatte mehr, in der nicht von Zeitnähe die Rede ist. Marke: „Wir werden das zeitnah entscheiden“– „Wir brauchen eine zeitnahe Lösung.“– „Wir sollten zeitnah konferieren.“Dabei kommt vor allem eine Eigenschaft dieses Wortes zum Tragen, die gerade Politikern in ihre Karten spielt. Man muss sich nicht festlegen und kann sich nachher wunderbar herausreden: Das Zeitfenster war halt doch zu klein …
Das Gegenteil von zeitnah wäre zeitfern. Aber das wird eigentlich nicht verwendet. Wobei man während der vergangenen Corona-Monate oft einmal den ketzerischen Gedanken hegen konnte, dass sich manche Zeitgenossen in ihrer eher zeitfernen Arbeitsweise wohlig eingerichtet haben. Allerhöchste Zeit, dass wieder normale Zeiten kommen – zeitnah, versteht sich.