Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Bücher in Quarantäne

Die New York Public Library wird 125 Jahre alt – Online-Ausleihe boomt, nicht nur in Corona-Zeiten

- Von Christina Horsten, dpa

NEW YORK (dpa) - „Fortitude“liest gerade den Roman „Der große Gatsby“von F. Scott Fitzgerald, der andere, „Patience“, das Buch „Menschenki­nd“von Tony Morrison. Die beiden steinernen Löwen bewachen den Eingang der Zentrale der New Yorker Stadtbibli­othek mitten in Manhattan – und zur Feier des 125. Jubiläums von deren Gründung haben sie jeweils eine rote Buchattrap­pe vor die Schnauze gesetzt bekommen.

Ursprüngli­ch hießen die beiden Marmor-Löwen „Leo Astor“und „Leo Lenox“, benannt nach den Bibliothek­sgründern John Jacob Astor und James Lenox. In den 1930er-Jahren aber taufte der damalige New Yorker Bürgermeis­ter Fiorello LaGuardia sie um.

Der Löwe am südlichen Ende der Eingangstr­eppe sollte von nun an „Patience“(Geduld) heißen, der am Nordende „Fortitude“(Kraft), denn diese Eigenschaf­ten würden die New Yorker seiner Ansicht nach in der schweren Wirtschaft­skrise 1930er-Jahre brauchen.

Auch in der Corona-Krise rund 90 Jahre später, in der die New York Public Library (NYPL) seit Monaten geschlosse­n ist, dürften diese Eigenschaf­ten von Vorteil sein. Die Eingangsst­ufen, auf denen sich sonst Freunde treffen oder Touristen Fotos knipsen, sind derzeit meist menschenle­er. Die NYPL hat alle Jubiläumsf­eiern abgesagt oder ins Internet verlegt. Nur dort kann man derzeit auch beispielsw­eise Bücher, Hörbücher oder Filme ausleihen.

Gegründet wurde die NYPL 1895 als private Stiftung im Zusammensc­hluss zweier öffentlich­er Bibliothek­en – der Astor Library, gegründet vom deutsch-amerikanis­chen Unternehme­r John Jacob Astor, und der Lenox Library des Rechtsanwa­lts James Lenox.

Inzwischen beherbergt sie rund 55 Millionen Bücher und Datenträge­r, ist damit nach der British Library in London und der Library of Congress in Washington die drittgrößt­e der öffentlich­e Bücherei der Welt – und dabei ist die NYPL noch nicht einmal die einzige Bibliothek in New York. Während sie mit 92 Filialen für die Stadtbezir­ke Manhattan, Bronx und Staten Island zuständig ist, haben die Bezirke Queens und Brooklyn jeweils noch einmal eigene Bibliothek­ssysteme.

Die Stadt New York unterstütz­t die drei Systeme jedes Jahr mit rund 80 Millionen Dollar.

Zu den besonderen Schätzen der Sammlung der NYPL gehört beispielsw­eise der Originalbr­ief von Christophe­r Columbus aus dem Jahr 1493, in dem er die Entdeckung der neuen Welt verkündet. Auch viele Nachlässe von Berühmthei­ten, etwa vom Autor Tom Wolfe, sind Teil der Sammlung. Die Filialen bieten neben Büchern den Zugang zu Computern, Ausstellun­gen, Veranstalt­ungen und Fortbildun­gskurse – und in einer können sogar Krawatten und Handtasche­n für Bewerbungs­gespräche ausgeliehe­n werden, alles kostenlos. Das 1911 eröffnete Hauptgebäu­de am Bryant Park dient immer wieder als Kulisse für Filme und Serien.

Rund 17 Millionen Menschen nutzen die NYPL normalerwe­ise im Jahr vor Ort. Beliebtest­es Buch in der Geschichte der Bibliothek ist das Kinderbuch „The Snowy Day“von Ezra Jack Keats, das mehr als 485 500 mal ausgeliehe­n wurde. Auf den Plätzen folgen: „The Cat in the Hat“von Dr. Seuss und „1984“von George Orwell.

Die Online-Ausleihe der Bibliothek wird in der Corona-Krise deutlich stärker als zuvor genutzt, wie Bibliothek­sdirektor Tony Marx jüngst in einem Interview sagte. Das E-Book-Angebot werde deswegen nun deutlich aufgestock­t. Wie und wann es mit den Büchern aus Papier weitergehe­n könne, sei noch unklar. „Möglicherw­eise müssen wir unsere Bücher noch lange in Quarantäne lassen. Schließlic­h wollen wir sicherstel­len, dass wir nicht Viren von einer Person zur nächsten weitergebe­n. Das müssen uns die Experten in der Welt der Büchereien und der Wissenscha­ft sagen.“

Und was ist das Lieblings-E-Book der New Yorker in der Corona-Krise? Es ist „Becoming“, die Autobiogra­fie der früheren First Lady Michelle Obama.

„Möglicherw­eise müssen wir unsere Bücher noch lange in Quarantäne lassen.“

Bibliothek­sdirektor Tony Marx

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FOTOS: CHRISTINA HORSTEN/DPA „Patience“, einer der beiden steinernen Löwen vor dem Eingang (rechts), liest einen Roman von Toni Morrison. Die New York Public Library wollte ihren 125. Geburtstag eigentlich groß feiern, stattdesse­n sind die Filialen der drittgrößt­en Bibliothek der Welt in der Corona-Krise geschlosse­n.
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FOTO: NETFLIX/DPA Michelle Obama in einer Szene der Netflix-Dokumentat­ion „Becoming". Ihre Autobiogra­fie ist derzeit das Lieblings-E-Book der New Yorker.

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