Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ohne Einstieg kein Ausstieg
Politische Diskussionen können nervenaufreibend sein, zäh, schmerzhaft, scheinbar fruchtlos. Mit etwas Abstand zeigt sich jedoch: Deutschland ist ein reformfähiges Land. Jenseits aller gegenseitigen Schmähungen sind die politische Elite, Wirtschaft und Zivilgesellschaft in der Lage, sich zu einigen. Und zwar auf etwas, das man – im Sinne eines akzeptablen Kompromisses zwischen widerstreitenden Einzelinteressen – als Gemeinwohl bezeichnen kann. So beschlossen Bundestag und Bundesrat nun den Kohleausstieg.
Damit wird wieder einmal eine Großtechnologie beendet, die die Mehrheit der Gesellschaft nicht mehr will. Die Förderung von Kohle und ihre Verbrennung in Kraftwerken zur Stromerzeugung beschleunigt die Erwärmung der Erdatmosphäre. Mit solchen Entscheidungen hat Deutschland eine gewisse Erfahrung. Im Jahr 2000 wurde der Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen, der, nach einigen Wendungen, zur Abschaltung des letzten Kernkraftwerks 2022 führen dürfte. Im Vergleich dazu erscheint die Restlaufzeit der Kohleindustrie als nicht übertrieben. Spätestens 2038 soll Schluss sein.
Und doch kann man 18 Jahre für zu lang halten, wie Umweltverbände und die Fridays-for-Future-Bewegung betonen. Um nicht noch Hunderte Millionen Tonnen klimaschädliches Kohlendioxid in die Luft zu blasen, müssten die letzten Kohlekraftwerke eigentlich schon 2030 ihren Betrieb einstellen. Und möglicherweise wird der Kohleausstieg auch zu teuer bezahlt. Über vier Milliarden Euro werden alleine die Braunkohle-Unternehmen als Entschädigungen erhalten. Hinzu kommen Dutzende Milliarden für den Strukturwandel in betroffenen Regionen, plus die Kosten für die Stilllegung der Steinkohlekraftwerke – ziemlich viel Geld für etwa 75 000 Arbeitsplätze. Für Regierung und Koalition sind diese Abschiedsgeschenke Investitionen in den gesellschaftlichen Frieden. Nun muss sich die Politik mehr um den Einstieg kümmern: Windräder, Solaranlagen, Speicher, Stromleitungen. Die Energiewende muss schneller vorankommen. Ohne Einstieg kein Ausstieg.