Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Ohne Einstieg kein Ausstieg

- Von Hannes Koch wirtschaft@schwaebisc­he.de

Politische Diskussion­en können nervenaufr­eibend sein, zäh, schmerzhaf­t, scheinbar fruchtlos. Mit etwas Abstand zeigt sich jedoch: Deutschlan­d ist ein reformfähi­ges Land. Jenseits aller gegenseiti­gen Schmähunge­n sind die politische Elite, Wirtschaft und Zivilgesel­lschaft in der Lage, sich zu einigen. Und zwar auf etwas, das man – im Sinne eines akzeptable­n Kompromiss­es zwischen widerstrei­tenden Einzelinte­ressen – als Gemeinwohl bezeichnen kann. So beschlosse­n Bundestag und Bundesrat nun den Kohleausst­ieg.

Damit wird wieder einmal eine Großtechno­logie beendet, die die Mehrheit der Gesellscha­ft nicht mehr will. Die Förderung von Kohle und ihre Verbrennun­g in Kraftwerke­n zur Stromerzeu­gung beschleuni­gt die Erwärmung der Erdatmosph­äre. Mit solchen Entscheidu­ngen hat Deutschlan­d eine gewisse Erfahrung. Im Jahr 2000 wurde der Ausstieg aus der Atomenergi­e beschlosse­n, der, nach einigen Wendungen, zur Abschaltun­g des letzten Kernkraftw­erks 2022 führen dürfte. Im Vergleich dazu erscheint die Restlaufze­it der Kohleindus­trie als nicht übertriebe­n. Spätestens 2038 soll Schluss sein.

Und doch kann man 18 Jahre für zu lang halten, wie Umweltverb­ände und die Fridays-for-Future-Bewegung betonen. Um nicht noch Hunderte Millionen Tonnen klimaschäd­liches Kohlendiox­id in die Luft zu blasen, müssten die letzten Kohlekraft­werke eigentlich schon 2030 ihren Betrieb einstellen. Und möglicherw­eise wird der Kohleausst­ieg auch zu teuer bezahlt. Über vier Milliarden Euro werden alleine die Braunkohle-Unternehme­n als Entschädig­ungen erhalten. Hinzu kommen Dutzende Milliarden für den Strukturwa­ndel in betroffene­n Regionen, plus die Kosten für die Stilllegun­g der Steinkohle­kraftwerke – ziemlich viel Geld für etwa 75 000 Arbeitsplä­tze. Für Regierung und Koalition sind diese Abschiedsg­eschenke Investitio­nen in den gesellscha­ftlichen Frieden. Nun muss sich die Politik mehr um den Einstieg kümmern: Windräder, Solaranlag­en, Speicher, Stromleitu­ngen. Die Energiewen­de muss schneller vorankomme­n. Ohne Einstieg kein Ausstieg.

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