Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Ein Aufstand für mehr Anstand

- Von Klaus Wieschemey­er k.wieschemey­er@schwäbisch­e.de

Bevor Stephan E., der mutmaßlich­e Mörder des Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke zur Tat schritt, ging er zu Wahlkampft­erminen der AfD und klebte Plakate für die Partei. Und auch, wenn die Partei formal nichts für ihre Helfer kann, zeigt sich doch, aus welchen Quellen sich auch sogenannte Einzeltäte­r ideologisc­h aufmunitio­nieren.

Der neue Verfassung­sschutzber­icht begründet ausführlic­h, warum er nun auch die Mitglieder des offiziell aufgelöste­n AfD-Rechtsausl­egers „Der Flügel“zum rechtsextr­emen Personensp­ektrum zählt. Wegen Leuten wie dem Vielleicht-AfDMitglie­d Andreas Kalbitz, der 2019 „afghanisch­e Deserteure“und „Kopftuchge­schwader mit Mehrfachki­nderwagen“an Bahnhöfen „herumlunge­rn“sah. Es ist eine solche menschenve­rachtende Sprache, die als durch das Internet beschleuni­gter Hass-Supersprea­der den Boden für Gewalt bereitet.

Lange haben Gesellscha­ft, Politik und auch der Verfassung­sschutz die verheerend­e Langzeitwi­rkung dieser Sprache unterschät­zt – und manchmal sogar mitgehetzt. Dass ausgerechn­et Horst Seehofer, der die Migration noch 2018 als „Mutter aller Probleme“brandmarkt­e, keine zwei Jahre später den Rechtsextr­emismus als „größte Bedrohung für die Sicherheit in Deutschlan­d“einstuft, ist da nicht ohne bittere Ironie.

Doch Staatsvera­chtung und sinkende Schwellen zur Gewalt sind beileibe kein Privileg rechter Extremiste­n: Auch andere Szenen neigen dazu, Menschen ihre Würde abzusprech­en. Ob Polizisten, Politiker oder Immobilien­makler – auch linksaußen fallen Hemmungen und führen geistige Brandstift­er das Wort.

Der Staat – und der sind wir – muss dagegenhal­ten. Der Verfassung­sschutz rüstet bereits auf, die Politik will endlich stärker gegen Hassreden vorgehen. Doch es braucht mehr: einen Aufstand der Mehrheit für mehr Anstand. Damit jemand wie Stephan E. merkt, dass die ganz große Mehrheit seine Weltsicht entschloss­en ablehnt und stattdesse­n eine Demokratie mit Würde und Respekt lebt.

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