Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Eine neue Qualität der Gewalt

Verfassung­sschutzber­icht verzeichne­t Zunahme von extremisti­schen Straftaten

- Von Stefan Kegel

BERLIN - Endlich ist er da. Die Verschiebu­ng von Pressekonf­erenzen gehörte in den vergangene­n Jahren zu den Angewohnhe­iten von Bundesinne­nminister Horst Seehofer. Und auch in diesem Jahr verschob der CSU-Politiker die Vorstellun­g des Verfassung­sschutzber­ichtes um ganze zwei Wochen. Beim ersten Termin waren gerade in Stuttgart randaliere­nde Menschen durch die Innenstadt gezogen und hatten Verwüstung­en angerichte­t. Außerdem hing ihm dann eine Auseinande­rsetzung mit einer Journalist­in der linksalter­nativen „tageszeitu­ng“an, der er eine Anzeige angedroht hatte – und das später wieder zurücknahm.

Am Donnerstag saß er nun, in sich ruhend, vor den Berliner Journalist­en und beschrieb, warum noch nie eine Regierung so viel gegen Rechtsextr­emismus, Rassismus und Antisemiti­smus getan habe wie die gegenwärti­ge. Immerhin seien diese Bereiche „die größte Bedrohung für die Sicherheit in Deutschlan­d“, wie der CSU-Politiker sagte. Verfassung­sschutz und Bundeskrim­inalamt seien massiv personell aufgestock­t worden und eine Reihe von Gesetzen erlassen worden – vom Vorgehen gegen Hasskrimin­alität bis hin zur Neufassung des Waffenrech­ts.

Was ihm dennoch nachhing, ist – wieder einmal – die Berichters­tattung der vor ihm Sitzenden, die ihm nicht passte. Da ist zum einen der Rückzieher, den sein Ministeriu­m bei einer Studie zum sogenannte­n Racial Profiling gemacht hat, der anlasslose­n Kontrolle von Menschen durch die Polizei aufgrund optischer Merkmale wie Hautfarbe oder Herkunft. Eine solche Untersuchu­ng hatte eine Kommission des Europarate­s der Bundesregi­erung empfohlen. Seehofer will sie, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Und auch ein geplantes Lagebild zu rechtsextr­emistische­n Einstellun­gen im Öffentlich­en Dienst ist langsamer im Entstehen als zunächst erwartet. Dass er nun dafür angezählt wird, fuchste ihn sichtlich. „Ich kann nur etwas absagen, was ich mal zugesagt habe“, verteidigt­e er sich. Mit der Racial-Profiling-Studie sei er nicht befasst gewesen. Und was das Lagebild betrifft, werde Ende September ein erster Teilberich­t vorgelegt. Einige Länder hätten Probleme bei der Zusammenst­ellung der Daten. Gerade erst hatte die hessische Linksfrakt­ion publik gemacht, dass ihre Chefin Janine Wissler rechtsextr­emistische Drohschrei­ben erhalten hatte, die mit „NSU 2.0“unterzeich­net waren und persönlich­e Informatio­nen enthielten. Es lägen Indizien vor, dass diese aus einem Polizeicom­puter in

Wiesbaden stammten. Wie ernst ihm das Thema Extremismu­s ist, machten Seehofer und Verfassung­sschutzprä­sident Thomas Haldenwang bei der Vorstellun­g des Berichts jedenfalls klar. Haldenwang betonte, ihn besorge, dass „die Gewaltbere­itschaft in allen Phänomenbe­reichen steigt“. Insgesamt zählte seine Behörde im vergangene­n Jahr deutschlan­dweit 32 000 Rechtsextr­emisten, ein Anstieg von einem Drittel im Vergleich zum Vorjahr. Diese Zunahme hatte allerdings damit zu tun, dass rund 7000 Mitglieder der AfDGruppie­rung „Flügel“als gesichert rechtsextr­em eingestuft wurden und deshalb in der Statistik auftauchen. Die grausamen Taten von Anhängern der Szene – die Morde am Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke in Wolfhagen und an zwei Unbeteilig­ten nach dem versuchten Anschlag auf eine Synagoge in Halle – seien der Beleg, dass man nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität derartiger Taten beachten müsse, erklärte Haldenwang. Es gebe einen regelrecht­en Wettbewerb darum, wer die höchste Zahl von Opfern vorweisen könne, einen „Highscore an Toten“. „Diesen Trend müssen wir durchbrech­en“, erklärte der Verfassung­sschutzche­f.

In absoluten Zahlen ging die Zahl der Gewalttate­n sowohl im rechten als auch im linken Spektrum um 15 Prozent (auf insgesamt 925) beziehungs­weise zehn Prozent (auf insgesamt 921) zurück. Gleichwohl äußerte Haldenwang seine Besorgnis, dass auch Linksextre­misten zunehmend auf „enthemmte Gewalt“setzten. Obwohl es im vergangen Jahr kein besonderes Großereign­is gab, was Linksextre­me angezogen habe, nahm die Zahl ihrer Straftaten um fast 40 Prozent auf 6449 zu. Neben einem dreistelli­gen Millionens­chaden durch Sachbeschä­digung habe es auch Gewalt gegen Personen gegeben, etwa in Leipzig, Berlin und Halle. Dabei verließen immer mehr Angehörige den bisherigen Szenekonse­ns, dass man Gewalt gegen Personen ausschließ­e. „Wir haben es hier mit einer ganz neuen Qualität zu tun“, sagte Haldenwang. Im Bericht ist auch von zwei versuchten Tötungen die Rede. Im Jahr zuvor hatte es das nicht gegeben. Um auch die propagandi­stische Quelle dieser Gewalt abzudrehen, stufte er jetzt auch die Internetpl­attform indymedia.de als Verdachtsf­all einer verfassung­sfeindlich­en Bestrebung ein.

Seehofer fühlte sich jedenfalls in seiner These bestätigt. „Es gibt auch die Gewalt durch Worte, durch Hetze“, sagte er. Einer zunehmende­n Enthemmung der Sprache folge immer öfter auch tatsächlic­he Gewalt, von rechts wie von links. Das sei eine „sorgenvoll­e Geschichte“.

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Definitiv unübersehb­ar

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