Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Neues Leben für alte Gleise

Stillgeleg­te Bahnstreck­en sollen reaktivier­t werden – Rund 300 Städte und Gemeinden könnten wieder ans Netz angeschlos­sen werden

- Von Wolfgang Mulke

BERLIN - Statt Gleise raus soll es bald wieder Gleise rein heißen. 4 016 Kilometer lang sind die stillgeleg­ten Bahntrasse­n, die bald wieder genutzt werden könnten. Das haben der Verband der Verkehrsun­ternehmen (VDV) und die Allianz pro Schiene ermittelt. Allein in Baden-Württember­g kommen Strecken von 178 Kilometern für den Personenve­rkehr und 25 Kilometern für den Güterverke­hr für eine neuerliche Nutzung infrage.

Die Reaktivier­ung wäre die Umkehr einer früheren Bahnpoliti­k. Insbesonde­re zu Beginn des Jahrhunder­ts wurden viele Strecken stillgeleg­t. Von einst 44 600 Gleiskilom­etern sind heute noch 38 500 übrig geblieben. Insbesonde­re die Anbindung ländlicher Regionen blieb dabei auf der Strecke. Ein Reaktivier­ungsprogra­mm könnte in Zukunft wieder Züge in diese Gebiete rollen lassen. Die Analyse der Verbände zeigt, dass davon 291 Städte und Gemeinden profitiere­n können. Drei Millionen Einwohner könnten so an eine neue Zugverbind­ung angebunden werden.

„Mit der Reaktivier­ung stillgeleg­ter Bahnstreck­en können wir den jahrzehnte­langen Rückzug der Schiene aus der Fläche stoppen und umdrehen“, sagt Dirk Flege von der Schienenal­lianz. Innerhalb eines Jahres

seien bundesweit bereits sechs Strecken wieder in Betrieb genommen worden. Insgesamt sind dafür 238 Verbindung­en geeignet. Bei vielen anderen Ex-Trassen ist dies nicht mehr möglich, weil zum Beispiel der Grund darunter verkauft oder bebaut worden ist.

Lange wurde die Forderung nach der Wiederbele­bung von Gleisen als zu teuer und unwirtscha­ftlich abgetan. Der Bund sah dafür auch keine Förderung vor. Das Blatt hat sich in den vergangene­n Jahren aber gewendet. Alle Städte mit wenigstens 100 000 Einwohnern sollen wieder ans Fernverkeh­rsnetz angeschlos­sen werden. Der kürzlich verabschie­dete Schienenpa­kt bestätigte das Ziel, das Fahrgastau­fkommen bis zum Ende des Jahrzehnts zu verdoppeln. „Wenn die Eisenbahn das Verkehrsmi­ttel des 21. Jahrhunder­ts werden soll“, betont Flege, „müssen wir das ganze Land im Blick haben.“Es gehe um Klimaschut­z, aber auch um die Gleichwert­igkeit der Lebensverh­ältnisse. 70 Prozent der Menschen leben in Mitteloder Kleinstädt­en und im ländlichen Raum. Die Chancen für die Umsetzung

der Vorschläge stehen derzeit nicht schlecht. Denn mit der Änderung des Gemeindeve­rkehrsfina­nzierungsg­esetzes (GVFG) hat der Bund wieder eine Förderung von 90 Prozent für die Reaktivier­ung von Strecken eingeführt. Auf Ebene der Länder und Kommunen habe dies schon umfangreic­he Aktivitäte­n ausgelöst, beobachtet Jörgen Boße, der beim VDV für die Infrastruk­tur zuständig ist. „Wir rechnen damit, dass dadurch die Wiederbele­bung in den kommenden Jahren erheblich Fahrt aufnimmt“, sagt er.

Auch aus der Politik kommt Rückenwind, sowohl von der Regierung als auch von der Opposition. Verkehrsmi­nister Andreas Scheuer will einen schnellen Ausbau des Bahnnetzes und neben höheren Kapazitäte­n an den Knotenpunk­ten und dem Neubau von Schnellstr­ecken auch die Wiederbele­bung vorantreib­en. Der bahnpoliti­sche Sprecher der Grünen, Matthias Gastel, fordert ein Sonderprog­ramm des Bundes, damit die alten Korridore schnell wieder in Betrieb genommen werden können. „Auf diese Weise können viele Regionen mit ihren Klein- und Mittelstäd­ten wieder an das Schienenne­tz angebunden werden“, verspricht Gastel. Auch die Planungen und Genehmigun­gsverfahre­n müssten beschleuni­gt werden.

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