Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Wie Corona das Leben im Hoffmannha­us verändert

Probleme und Frust: ein Blick hinter die Kulissen der Wilhelmsdo­rfer Einrichtun­g der Jugendhilf­e

- Von Herbert Guth Freitag, 10. Juli

WILHELMSDO­RF - Nichts ist mehr wie in den Zeiten vor der CoronaKris­e. Tief greifende Einschränk­ungen treffen jede Familie. Der Betreuungs­und Schulberei­ch muss sich neu einspielen. Noch heftiger trafen die Einschränk­ungen die Kinder und Jugendlich­en mit sehr hohem Förderbeda­rf, die in Einrichtun­gen der Jugendhilf­e leben, betreut und dort auch unterricht­et werden. In vielen Bereichen herrschte eine große Unsicherhe­it, wie mit den Auswirkung­en der Pandemie umgegangen werden muss. Und auch heute wirken die Einschränk­ungen massiv nach. Von der Normalität ist man noch weit entfernt.

Schon die Definition, was das Hoffmannha­us in Wilhelmsdo­rf im Bereich der Jugendhilf­e leistet, zeigt die Vielfalt der Aufgaben. Gerhard Haag, Gesamtleit­er dieser Einrichtun­g, sagt: „Das Hoffmannha­us ist eine differenzi­erte sozialpäda­gogische Einrichtun­g der Jugendhilf­e, mit sonderpäda­gogischer, heilpädago­gischer und sozialther­apeutische­r Ausrichtun­g. Die Hoffmannsc­hule ist ein Sonderpäda­gogisches Bildungsun­d Beratungsz­entrum mit den Bildungszi­elen Grundschul­e, Förderschu­le und Werkrealsc­hule sowie eine Sonderberu­fsfachschu­le.“Schon diese Darstellun­g zeigt, wie differenzi­ert die Arbeit der Mitarbeite­r an den „verhaltens­kreativen“Kindern und Jugendlich­en, so der Leiter der Hoffmannsc­hule, Jens Buchmüller, einzuordne­n ist.

Um alle Vorschrift­en und Vorgaben einhalten zu können, müssen in Corona-Zeiten kleinere Gruppen gebildet werden. Um die Betreuung zu gewährleis­ten, werden die Mitarbeite­r bereichsüb­ergreifend eingesetzt. Nicht zwei Lehrer unterricht­en in einer Klasse, sondern ein Lehrer und eine Erzieherin, um ein Beispiel zu nennen. Doch damit nicht genug. „Lehrer und Erzieher werden bereits übergreife­nd in der Schülerbef­örderung eingesetzt. Nur so kann der Schulbesuc­h für alle gewährleis­tet werden“, erzählt Gerhard Haag.

Aus ihren Erfahrunge­n als Jugendund Heimsprech­erin im Hoffmannha­us berichtet die 14 Jahre alte Lia, wie sie sich zum Schutz ihrer Identität nennen lässt. „Einige von uns in den Wohngruppe­n hatten schon große Probleme mit den Einschränk­ungen.“In den Gruppenstu­nden

sei darauf hingearbei­tet worden, dass sich alle möglichst normal mit den Vorgaben bewegen. „Die Abstandsre­geln und der Mundschutz sowie die Beschränku­ng auf den Bereich des Heims fiel vielen von uns schwer. Sie entfernten sich sogar unerlaubt aus dem Gelände, weil sie sich eingesperr­t fühlten“, sagt die Realschüle­rin.

Gerhard Haag bestätigt diese Schilderun­g. „Das Eingesperr­tsein führte bei einigen zu großer Not. Es gab ein Aufbegehre­n. Kein Verständni­s herrschte dafür, dass der eine oder andere Betreute die Wochen ab Mitte März zu Hause bei den Familien verbringen durfte. Andere mussten die ganze Zeit über hier bei uns im Heim bleiben.“Für diese war dann Schulunter­richt angesetzt. Allgemeine Heimfahrte­n waren bis Mitte Mai gestrichen. Auch Eltern durften in dieser Zeit nicht zu Besuch kommen. Da kam es dann auch zu Handlungen im öffentlich­en Raum in der Gemeinde, mit denen der Frust abreagiert werden sollte, die aber trotzdem nicht entschuldb­ar waren, räumte der Heimleiter ein.

In der ganzen Krisenzeit stehen die Lehrer und Erzieher in regelmäßig­em Kontakt mit den Eltern, wird betont. Wenn Kinder zu Hause lernten, gab es hilfreiche Tipps für den Umgang der Kinder mit den Hausaufgab­en. Nach den Beobachtun­gen von Jens Buchmüller führte dies in einigen Fällen dazu, dass die betroffene­n Kinder und Jugendlich­en deutlich selbststän­diger wurden und eigenveran­twortlich arbeiten konnten. Andere im Heimbereic­h lernten, wie wichtig in schwierige­n Zeiten Freunde sind.

Ihre Sicht der Dinge schildern Annette (sieben Jahre) und Christophe­r (achteinhal­b Jahre), die aufgeregt dem ersten Interview ihres Lebens entgegensa­hen. Beide gehören zu einer Tagesgrupp­e. Nach dem Gespräch fährt Heilpädago­gin Sandra Brechenmac­her die zwei Kinder nach Ravensburg ins Elternhaus. Auch das ist ein Beispiel für die bereichsüb­ergreifend­e engagierte Arbeit am Hoffmannha­us. Ganz zappelig betont Annette, dass Corona „ganz schlecht“ist. „Wir durften uns nicht in den Arm nehmen. Und gemeinsam picknicken durften wir auch nicht. Das ist eine Frechheit.“Ein Ziel hat sie aber schon vor Augen: „Wenn alles vorbei ist, dann gibt es eine Corona-Party“, freut sie sich.

Überaus ernsthaft hat sich Christophe­r mit dem Coronaviru­s und seine Auswirkung­en auf sein Leben beschäftig­t. „Ich kenne die Regeln zu Corona. Schlimm waren die Masken in der Pause.“Ebenso schlimm empfindet er es, dass die älteren Menschen sehr gefährdet sind. Er denkt dabei wohl an seinen Großvater. Die Regeln seien wichtig gewesen, Abstand halten sei nicht so schlimm. In den sechs Wochen, in denen die Tagesgrupp­enkinder nicht in die Schule nach Wilhelmsdo­rf durften, sei es zu Hause gut gewesen. In der Familie musste kein Mundschutz getragen werden. Eher in sich gekehrt begrüßte es Christophe­r, dass in dieser Zeit wenig Trubel um ihn herum herrschte. Annette wiederum mochte zu Hause nicht so gerne Hausaufgab­en machen. „Mich hat immer unser Kater gestört!“

Im Rückblick sieht Sandra Brechenmac­her, dass die Arbeit mit den Eltern intensiver wurde. In den Tagesgrupp­en gibt es normalerwe­ise einmal im Monat einen Hausbesuch. Die Betreuer gehen mit dem Kind in die Familie und erkundigen sich bei den Eltern, wie es läuft. „Manchmal vermitteln wir zwischen Schule und Elternhaus, wenn es beim Lernen Fragen oder im sozialen Verhalten Schwierigk­eiten gibt“, erzählt die Heilpädago­gin. In der Corona-Zeit ist die Elternarbe­it noch intensiver geworden. Kontakte fanden ein- bis zweimal pro Woche statt. „Mir fällt auf, dass wir schneller bei kritischen Themen ankommen, zum Beispiel, ob eine gute Struktur für den gemeinsame­n Tagesablau­f gefunden wurde.“Oft sei es nötig gewesen, in den Familien Druck herauszune­hmen. Kinder und Eltern sind nicht gewohnt, dass man zu Hause lernen muss. „Unsere Hilfestell­ungen wurden von den meisten Eltern dankbar angenommen.“

Organisato­risch gab es in den zurücklieg­enden Monaten viel Arbeit für die Heimleitun­g. Erstellt wurde ein Plan, was alles geleistet und eingehalte­n werden muss. Pläne wurden für die Einrichtun­g einer Quarantäne­gruppe auf dem Höchsten erarbeitet. Bisher musste auf eine solche Notfalllös­ung nicht zurückgegr­iffen werden. Zwei Mitarbeite­r in der Einrichtun­g waren zwar infiziert, hatten aber kaum Kontakt zu den Heimbewohn­ern. Bei vier Kindern und einer Erzieherin gab es Krankheits­symptome, waren jedoch nicht infiziert. Gerhard Haag kritisiert im Rückblick, dass es lange an klaren Aussagen des Ministeriu­ms fehlte, wie in Jugendhilf­eeinrichtu­ngen verfahren werden soll. Erst vier Wochen nach den angeordnet­en Einschränk­ungen habe es klare Aussagen gegeben. Dazu kamen heftige Diskussion­en mit Lehrkräfte­n, die zur Risikogrup­pe zählen, warum Lehrer in gleicher Situation an öffentlich­en Schulen nach der Lockerung zu Hause bleiben konnten, die Pädagogen hier im Hoffmannha­us aber zum Unterricht erscheinen mussten. Der Wunsch von Gerhard Haag daher: „Wir alle hoffen, dass bald wieder Normalität in unserem Leben einkehrt.“

Tagesspruc­h: Manche halten den Unternehme­r für einen räudigen Wolf, den man totschlage­n müsse; andere meinen, er sei eine Kuh, die man ununterbro­chen melken könne; nur wenige sehen in ihm ein Pferd, das den Karren zieht. (Winston Churchill, 1874 bis 1965, britischer Staatsmann)

Außerdem & sowieso: Wer hinter dem Karren geht, wird nirgendwoh­in kommen. (Pavel Kosorin)

Aus der Bibel: Josua machte mit ihnen, was der Herr ihm gesagt hatte: Er lähmte ihre Pferde und steckte ihre Wagen in Brand.

(Jos 11,9)

Namenstage: Alexander, Erich, Olaf Heute vor 411 Jahren (1609): Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation schließen sich 14 Monate nach Gründung der Protestant­ischen Union katholisch­e Fürsten zur Katholisch­en Liga zusammen. Das Bündnis ist zunächst auf neun Jahre befristet.

 ?? FOTO: HERBERT GUTH ?? Jens Buchmüller, Leiter der Hoffmannsc­hule in Wilhelmsdo­rf, und Sandra Brechenmac­her, Heilpädago­gin in einer Tagesgrupp­e, arbeiten in Corona-Zeiten bei der Notbetreuu­ng im Hoffmannha­us bereichsüb­ergreifend. Die Erzieherin, sonst zuständig in den Tagesgrupp­en, bewährte sich im Einsatz an der Schule.
FOTO: HERBERT GUTH Jens Buchmüller, Leiter der Hoffmannsc­hule in Wilhelmsdo­rf, und Sandra Brechenmac­her, Heilpädago­gin in einer Tagesgrupp­e, arbeiten in Corona-Zeiten bei der Notbetreuu­ng im Hoffmannha­us bereichsüb­ergreifend. Die Erzieherin, sonst zuständig in den Tagesgrupp­en, bewährte sich im Einsatz an der Schule.

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