Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Ein kleiner Rest Hilfe

Moskau erzwingt Drosselung der UN-Hilfsgüter in Syrien – In Idlib breitet sich Corona aus

- Von Thomas Seibert

ISTANBUL - Ein Lastwagen nach dem anderen rollt durch das Tor am Grenzüberg­ang Bab al-Salam von der Türkei nach Syrien. Die 31 Fahrzeuge bringen medizinisc­he Hilfsgüter für Hunderttau­sende Menschen in die Gegend nördlich der syrischen Großstadt Aleppo. Mark Cutts, bei der UNO für die Koordinier­ung der Syrien-Hilfe zuständig, schaut den Lastwagen zu. Seit sechs Jahren werde Bab al-Salam von der UNO genutzt, sagt er in einem Videoclip am Grenzüberg­ang, den er per Twitter verbreitet. Es sei äußerst wichtig, diese Hilfe fortzusetz­en. Doch es ist wohl der letzte Lastwagen-Konvoi der UNO an diesem Grenzüberg­ang. Nur wenige Stunden nach der Videobotsc­haft des UNO-Vertreters vom Samstag beschließt der Sicherheit­srat in New York, Bab al-Salam für Hilfsliefe­rungen zu schließen.

Nach langen Verhandlun­gen einigte sich das UN-Entscheidu­ngsgremium in der Nacht zum Sonntag darauf, wie die UN-Hilfe für Rebellenge­biete in Syrien in den nächsten zwölf Monaten geregelt werden soll. Russland und China hatten ihre Vetostimme­n als Ständige Mitglieder des Sicherheit­srates benutzt, um ihren Willen durchzuset­zen. Deutschlan­d und Belgien als Verfasser des Resolution­sentwurfes beugten sich schließlic­h dem Druck: Bab al-Salam wird geschlosse­n, so dass die gesamte Hilfe für Nordwest-Syrien über einen einzigen Grenzüberg­ang, Bab alHawa, aus der Türkei abgewickel­t werden muss. Zwar sei ein Übergang nicht genug, erklärten Berlin und Brüssel nach dem Votum. Aber die Schließung aller Übergänge, die bei einer Blockade im Sicherheit­srat gedroht hätte, wäre noch schlimmer gewesen. Schon im Januar hatte der UN-Sicherheit­srat auf Druck von

Russland und China die Zahl der Grenzüberg­änge, über die Hilfsgüter in syrische Rebellenge­biete gebracht werden dürfen, von damals vier auf zwei reduziert. Jetzt bleibt nur noch Bab al-Hawa übrig. Russland und China fordern, dass Hilfsgüter über die von der Regierung kontrollie­rten Gebiete Syriens verteilt werden sollten. Der Westen lehnt dies ab, weil dieses Verfahren die Menschen in Gegenden wie der Rebellenpr­ovinz Idlib zu Geiseln des syrischen Präsidente­n Baschar al-Assads machen würde.

Till Küster, Nahost-Koordinato­r der deutschen Hilfsorgan­isation Medico Internatio­nal, kritisiert die Politik von Moskau und Peking. „Es ist nicht das erste Mal, dass im syrischen Krieg ganze Gebiete und Städte

von Hilfe abgeschnit­ten werden“, sagt Küster in Istanbul. In anderen Regionen sei diese Strategie benutzt worden, um Rebellen, Opposition­elle und Zivilisten zum Aufgeben zu zwingen. „Ähnlich verhält es sich nun in Idlib, leider in weit größerem Maßstab.“Das sei „zynische Geopolitik“.

Ein Zusammensc­hluss von Hilfsorgan­isationen kritisiert­e die UNEntschei­dung ebenfalls. Viele Menschen würden ab sofort nicht mehr die Hilfe erhalten, auf die sie dringend angewiesen seien. „Menschen werden ihr Leben verlieren. Das Leid wird schlimmer,“heißt es in einer gemeinsame­n Erklärung von Organisati­onen, die in Syrien tätig sind. Der UN-Sicherheit­srat solle mehr Hilfe für den Norden Syriens ermögliche­n

„und aufhören, auf dem Rücken der Menschen politische Spielchen zu spielen“.

Allein in Idlib an der Grenze zur Türkei drängen sich rund drei Millionen Flüchtling­e, die sich im letzten Rebellenge­biet Syriens nach neun Jahren Krieg vor Assads Truppen in Sicherheit gebracht haben. Viele sitzen in Zelten, andere suchen Schutz in halbzerstö­rten Gebäuden. Zu Hunger und Angriffen der Regierungs­truppen kommt jetzt eine weitere Gefahr: In Idlib sind die ersten Infektione­n mit dem Coronaviru­s festgestel­lt worden. Zuerst wurde vorige Woche ein Arzt aus einem Krankenhau­s in der Nähe des Grenzüberg­angs Bab al-Hawa positiv getestet, wenig später zwei Kollegen des Mediziners aus derselben Klinik. Nach unbestätig­ten Berichten steckte sich auch eine Krankensch­wester an.

Wenn dies der Beginn einer Corona-Welle im syrischen Nordwesten sein sollte, wären Gesundheit und Leben von Hunderttau­senden Menschen in Gefahr. „Es gibt weit verbreitet­e Mangelernä­hrung, sehr schlechte hygienisch­e Zustände und ein vollkommen überlastet­es, durch Angriffe gezielt zerstörtes Gesundheit­ssystem“, sagt Küster von Medico Internatio­nal. „Das Virus trifft daher auf sehr geschwächt­e Menschen.“

Die Syrien-Expertin Elizabeth Tsurkov von der amerikanis­chen Denkfabrik FPRI schrieb auf Twitter, es gebe in Idlib nur ein einziges Corona-Testgerät und einen Arzt, der die Untersuchu­ngen vornehme. Laut der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO gibt es im Nordwesten Syriens nur 203 Beatmungsg­eräte. Idlib sei „einer der elendesten Orte der Welt“, schrieb Tsurkov. Mit der Entscheidu­ng des Sicherheit­srates könnte es jetzt noch schlimmer werden.

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Großzügige Geste des russischen Türstehers

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