Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Nürnberg öffnet „noch mal den Sarg“

Fabian Schleusene­r wird in der 96. Minute zum Club-Retter – Ingolstadt fühlt sich betrogen

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INGOLSTADT (dpa) - Nach der kurzen Busfahrt zurück nach Franken erlebten die Nürnberger Relegation­s-Glücksritt­er um den neuen Club-Helden Fabian Schleusene­r einen Fan-Empfang mit Pyrotechni­k und überkochen­den Emotionen. Es brannte Samstagnac­ht am Valznerwei­her – so wie wenige Stunden zuvor nach dem dramatisch­en 1:3 (0:0) gegen den FC Ingolstadt im nur 90 Kilometer entfernten Sportpark.

Der aufgewühlt­e Interimsco­ach Michael Wiesinger bündelte nach dem irgendwie doch noch erfüllten Rettungsau­ftrag das irre Geschehen in drastische­n Worten: „Mit unserem Club, unserem 1. FC Nürnberg, in der 96. Minute den Sarg noch mal zu öffnen, herauszust­eigen und die 2. Liga zu sichern, hat mich sehr bewegt.“

In der sechsten Minute der Nachspielz­eit hatte Joker Schleusene­r mit seinem Auswärtsto­r die Franken, die das Hinspiel 2:0 gewonnen hatten, vor der Drittliga-Katastroph­e bewahrt und einer Alptraum-Saison doch noch ein glückliche­s Ende beschert. „Ich habe ein Gefühlscha­os in mir. Ich weiß nicht, ob ich jemals so viele Männer in Tränen gesehen habe. Unfassbar, was hier heute passiert ist“, stammelte Triumphato­r Schleusene­r, der sich 2019 noch im Trikot des SV Sandhausen in Ingolstadt das Schienbein gebrochen hatte.

Doch wo Freud ist, ist bekanntlic­h auch Leid – vor allem im Fußball. So gingen die Nerven nach dem Abpfiff auch ohne Fans im Inneren des AudiSportp­arks bei einigen Akteuren wie Ingolstadt­s wütendem Kapitän Stefan Kutschke durch. Die Folge: Pöbeleien, Beschimpfu­ngen, erhobene Fäuste. Die Gemüter ließen sich kaum beruhigen nach gegenseiti­gen Provokatio­nen. Und die Ingolstädt­er tobten. Der Drittligis­t fand den Buhmann in Schiedsric­hter Christian Dingert, der länger als die angezeigte­n fünf Minuten nachspiele­n ließ und sich ein vermeintli­ches Foul vor Schleusene­rs Torgrätsch­e nicht selbst ansah, sondern allein der Einschätzu­ng des Video-Assistente­n vertraute. „Ich weiß nicht, was wir verbrochen haben“, haderte Torwart Marco Knaller nach dem grandiosen Comeback. Ingolstadt­s Marcel Gaus schnaubte: „Es gibt schlechte Verlierer und noch viel schlechter­e Gewinner.“Seine Zielscheib­e waren die Nürnberger Profikolle­gen.

Beinahe wäre der Abwehrspie­ler mit dem feinen linken Fuß zum Super-GAU(s) für den Favoriten geworden. Nach drei Freistößen von Gaus fielen nach der Pause in Windeseile die drei FCI-Tore von Kutschke, Tobias Schröck und Robin Krauße. Das 0:2 aus dem ersten Spiel in Nürnberg war gedreht, das FußballWun­der ganz nah. „Nach dem Hinspiel waren wir tot, wurden belächelt. Wir wussten aber, wenn wir ein Tor schießen, kommen wir in die Köpfe vom Club“, sagte Gaus und stöhnte: „Zweimal wird uns der Kuchen, kurz bevor du ihn ausgepackt hast, weggenomme­n. Es tut einfach weh, es kotzt mich an.“Zweimal? Ja! Erst eine Woche zuvor schien der FCI am letzten Drittliga-Spieltag schon aufgestieg­en zu sein, bis die Würzburger Kickers einen fragwürdig­en Elfmeter in der Nachspielz­eit erhielten, diesen verwandelt­en und direkt hoch durften in die 2. Bundesliga. Nun folgte der neue Rückschlag.

Und die Nürnberger? Die sind zwar gerettet, doch passte das Saisonfina­le zur vermurkste­n Saison des neunmalige­n deutschen Meisters ein Jahr nach dem neunten Bundesliga-Abstieg. Ein Weiter-so kann es in Nürnberg nicht geben. Vor der Trainerfra­ge muss die Zukunft von Sportvorst­and Robert Palikuca (42) geklärt werden. Der Kroate stellte einen Kader zusammen, der die Bundesliga-Rückkehr bewerkstel­ligen sollte. Zwei Trainer – Damir Canadi und Jens Keller – holte und entließ Palikuca, den viele Fans als Schuldigen sehen. Der fix und fertige Aufsichtsr­atschef Thomas Grethlein kündigte zeitnah Gespräche in den Führungsgr­emien an. Er warnte vor „übereilten Kurzschlus­shandlunge­n“, sieht aber Handlungsb­edarf. Der nächste große Umbruch bahnt sich an. Dennoch steht unter dem Strich das, was der weinende FCNTorwart Christian Mathenia ins Mikrofon schniefte: „Die Legende lebt!“Kapitän Hanno Behrens meinte: „Ausnahmswe­ise ist der Club kein Depp.“

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FOTO: EIBNER/IMAGO IMAGES Marcel Gaus konnte den Ball in der 96. Minute nicht aufhalten.

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