Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ganz Deutschland gilt als endlagertauglich
Bleibe für Atommüll verzweifelt gesucht – Auch Standorte im Süden werden geprüft
BERLIN/JAMELN - Die Wucht des Widerstands ist auch heute noch spürbar im Wendland: Am Ortseingang des Dörfchens Jameln sind aufgeschlitzte Traktorreifen der AntiCastor-Demos aufgereiht, gelbe Atomfass-Attrappen stehen herum. An Scheunen, in Gärten oder am Feld – das gelbe X der Gegner von Atommülltransporten ist in dieser Region allgegenwärtig. Sie erinnern an einen Kampf, der ikonische Bilder produzierte. Wie die des Jamelner Landwirts Adi Lambke, den Polizisten 1996 traktierten und blutend aus seinem Traktor zogen. Lambke hatte Jamelns Kreuzung blockieren wollen.
Jahrzehntelang gärte und krachte es in der Region: Im Juni 1980 räumten Polizei und Bundesgrenzschutz wenige Kilometer weiter bei Gorleben die „Freie Republik Wendland“, ein Hüttendorf an einem Test-Bohrloch für ein Atomendlager. Es war einer der ersten Höhepunkte einer Eskalation um Gorleben, der das Wendland und die Bundesrepublik umkrempeln und den bis dato fast unbekannten Grünen den Weg in die Parlamente ebnen sollte. Dabei galt das dünnbesiedelte Wendland nahe der innerdeutschen Grenze bis Mitte der 1970er-Jahre als verschlafen. Dann kam Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht auf die Idee, einen Salzstock im Zonenrandgebiet zum Endlager für Atommüll zu machen. Warum die Wahl auf Gorleben fiel, wurde nie geklärt, doch der Rest ist Geschichte. Sogar ein Archäologe hat nach den Resten der einstigen Republik gesucht.
40 Jahre nach der Räumung wird in Deutschland wieder nach einem Atomendlager gesucht. Doch dieses Mal soll alles anders werden. Man wolle „die Fehler der Vergangenheit“nicht wiederholen, sagt Wolfram König, Präsident des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (Base). Deshalb soll die Suche nach dem endgültigen deutschen Atomendlager dieses Mal besonders transparent, nachvollziehbar und mit sehr viel Dialog vonstatten gehen. Das dürfte auch ziemlich lange dauern: Laut dem nach Königs Worten sehr ambitionierten Zeitplan soll der Standort 2031 feststehen, der Atommüll ab 2050 einfahren.
Nur: Atomkraftgegner sind nicht überzeugt von dem Plan. Das Verfahren werde den eigenen Ansprüchen nicht gerecht, kritisieren sie. „Da wird Beteiligung simuliert“, sagt Angela
Wolff von den Atomkraftgegnern „Ausgestrahlt“. Engagierte Bürger könnten zwar Stellungnahmen abgeben, diese müssten jedoch nicht berücksichtigt werden. „Es reicht, wenn sie abgeheftet werden“, kritisiert sie. Außerdem hätte man nicht genug Zeit, sich in Teilentscheidungen einzuarbeiten.
Derweil stehen die Castoren mangels Endlager an den Atommeilern, denn Gorlebens Erkundung wurde abgebrochen. Allein in Baden-Württemberg waren es Ende 2019 an den Standorten Phillipsburg und Neckarwestheim 148, im bayerischen Gundremmingen nahe Ulm weitere 69. Wenn Deutschlands letzte Kernkraftwerke 2022 vom Netz gehen, dürften bundesweit etwa 1900 Behälter mit hochradioaktivem Inhalt die nur noch wenige Jahre genehmigten
Zwischenlager füllen, davon 233 in Baden-Württemberg und 355 in Bayern. Allein für Gundremmingen rechnet das Base mit 176 Castoren, die bis zur Endlagerfindung wohl am Kraftwerk bleiben werden.
Wo der ganze Atommüll danach hin soll, ist offen, Politiker sprechen gerne von einer „weißen Landkarte“. Sicher ist, dass das Endlager in Deutschland, mindestens 300 Meter unter der Erde und in Salz, Ton oder Granit liegen soll. Während Salz eher unter Norddeutschland vermutet wird, wird geeigneter Ton auch unter großen Teilen der Schwäbischen Alb, an der deutsch-schweizerischen Grenze sowie im Westen Brandenburgs vermutet. Granit gibt es unter anderem im Schwarzwald, sowie in Oberfranken und Sachsen. Der erdbebenbedrohte Schwarzwald dürfte aber wohl ausfallen, denn das Lager soll eine Million Jahre lang halten.
Die Kritiker bezweifeln allerdings, dass die Landkarte tatsächlich so weiß ist. Schwammige Formulierungen in den Gesetzen würden bei der Auswahl Interpretationsspielraum lassen. „Diese Spielräume können am Ende politisch genutzt werden“, sagt Wolff.
Ein Bundesland gibt sich dabei alle Mühe, diesen Verdacht zu nähren: Bayern versucht immer wieder, auch das Granit als mögliches Wirtsgestein auszuklammern. CSU und Freie Wähler haben im aktuellen Koalitionsvertrag zudem festgelegt, dass ihr Land generell ungeeignet für ein Endlager ist. Doch noch ist der Freistaat Teil der weißen Landkarte.
Derzeit arbeitet die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) an einer ersten Vorauswahl grundsätzlich geeigneter Regionen. Die BGE erstellt die Karte nach Aktenlage, danach soll die Erforschung starten. Doch schon daran gibt es Kritik, denn die Geodaten sind sehr ungleich verteilt. Das Ergebnis soll am 30. September vorgestellt werden. Der Termin wird mit Spannung erwartet, denn je konkreter die Planungen werden, desto größer dürfte der Widerstand vor Ort werden. Und – auch das ist eine Lehre des Wendlands: Wo immer es Zweifel gibt, dass der ausgeguckte Standort der beste ist, fassen die Gegner nach, hinterfragen und kritisieren. Deshalb soll jedes Ergebnis öffentlich diskutiert werden.
Dass die Endlagersuche derzeit öffentlich kaum ein Thema ist, hält König für trügerisch. Sobald der BGE-Bericht da ist, werde die Debatte Fahrt aufnehmen. „Die Abfälle sind ja vorhanden. Sie werden durch Augenverschließen nicht verschwinden“, sagt er.
Im Wendland ist das Thema allgegenwärtig, immerhin stehen in Gorleben 113 Castoren mit Atommüll. Der Widerstand hat die Region zudem nachhaltig verändert. Die Proteste machten die Grünen jenseits der großstädtischen Hipsterviertel vielerorts zur stärksten Partei. Der Widerstand lockte Kreative und Alternative an, die teilweise blieben. Die ländliche Region ist heute bekannt für Biobauern, Genossenschaften und eine vielfältige Kunstund Kulturszene.
Ist die Zeit der wütenden Proteste also zumindest im Wendland vorbei? Nein. Denn noch immer ist unklar, ob am Ende der Suche nicht doch wieder der Name Gorleben stehen wird.