Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ausreisesperren für ganze Kreise? Wohl eher nicht
Nicht nur die Kanzlerin setzt auf noch genauere Eingrenzung von Corona-Ausbruchsherden
BERLIN - Wenn Angela Merkel am Dienstag von einer „interessanten Verwaltungsrechtsprechung“redet und ihr Sprecher Steffen Seibert dies am Mittwoch noch ausdrücklich zitiert, ist das schon ein deutlicher Wink mit dem Zaunpfahl. Denn was Verwaltungsgerichte urteilen, ist oft nur für Juristen interessant.
Anders verhält es sich mit einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in Münster, welches vergangene Woche die Verlängerung der Corona-Beschränkungen im Kreis Gütersloh kippte. Die waren nach dem Covid-19-Massenausbruch in der Fleischfabrik Tönnies von der nordrhein-westfälischen Landesregierung verhängt worden – und den Richtern zu ungenau.
Ihre Begründung: Zwar seien die Einschränkungen anfangs richtig gewesen. Doch in der Folgezeit habe es einer differenzierteren Regelung bedurft, da eben nur Teile, und nicht der ganze Kreis Gütersloh betroffen gewesen sei. Auf Dauer einen ganzen Kreis abzusperren, weil es an einigen Orten Probleme gebe, sei nicht verhältnismäßig.
Dass Merkel das „interessant“findet, ist wohl ein Hinweis darauf, wohin die Kanzlerin auch bundesweit will. Am Dienstag hatte sich die CDUPolitikerin zusammen mit Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) für regionale Ausreisesperren stark gemacht. Die Idee: Gerade in der
Urlaubszeit sollen regionale Ausbruchsherde auf diese Weise eingegrenzt bleiben, bis das Geschehen unter Kontrolle ist. Eigentlich sollte Kanzleramtsminister Helge Braun die Sache am Mittwoch mit den Ländern klären, doch einige hatten weiteren Redebedarf.
Nun will Braun am Donnerstag mit den Staatskanzleien der Bundesländer über regionale Ausreiseverbote für Corona-Hotspots entscheiden. Mit Blick auf Gütersloher Urlauber, die in Bayern und Mecklenburg-Vorpommern abgewiesen wurden, argumentierte Braun, dass es mit einem Regional-Lockdown sowohl für die Gastgeber als auch die Urlauber einfacher sei.
Die Frage sei, ob ein regionaler Lockdown nicht die bessere Variante sei, um einen Massenausbruch wie in Nordrhein-Westfalen schnell unter
Kontrolle zu bekommen. Die Reaktionen aus den Ländern fielen unterschiedlich aus: Aus der Stuttgarter Villa Reitzenstein kam am Mittwoch wenig Aussagekräftiges. Da dem Land Baden-Württemberg noch kein schriftlicher Beschlussvorschlag vorliege, könne man das „im Moment auch nicht bewerten“, teilte eine Sprecherin auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“mit – und verwies auf Donnerstag.
Andere sind deutlicher: Die Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt und Sachsen warnten, ihre Landkreise seien zu groß, um sie komplett zu schließen. Auch aus Niedersachsen kam eine klare Absage: „So etwas kann man sich im fernen Berlin oder auch München ja gerne ausdenken, aber es ist in der Fläche überhaupt nicht praktikabel“, sagte SPD-Innenminister Boris Pistorius der „Neuen
Osnabrücker Zeitung“. Kontrollieren lasse sich ein regional begrenzter Lockdown im ländlichen Raum nur stichprobenartig, und das sei auch noch teuer. Auch Berlin winkt ab: Bei Stadtbezirken in der Größenordnung von Landkreisen seien Reisebeschränkungen nicht machbar, so Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci.
Polizeivertreter halten die Abriegelung eines Landkreises zwar für machbar, aber auch für sehr personalintensiv. Das gilt auch im Südwesten: „Wenn es nur einen einzigen Landkreis beträfe und niemand sonst drumherum betroffen wäre, dann wäre das personell schon zu leisten“, sagte der Sprecher des Polizeipräsidiums Ravensburg, Thomas Kalmbach, der „Schwäbischen Zeitung“.
Für den baden-württembergischen Landkreistag stellt sich zudem die Frage, ob man das Instrument im Südwesten überhaupt braucht: Mit dem Eindämmungskonzept des Landes für die Landkreisebene stehe den Behörden vor Ort „ein breiter Instrumentenkasten zur Verfügung“, sagte Landkreistags-Hauptgeschäftsführer Alexis von Komorowski. „Legt man die Philosophie des überzeugenden Landeskonzepts zugrunde, dann sind zwar Ausreiseverbote nicht komplett auszuschließen. Sie kommen allerdings überhaupt nur dann in Betracht, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind und im Übrigen davon auszugehen ist, dass sie auch vor Gericht standhalten“, so Komorowski mit Blick auf das „interessante“Urteil aus Münster.