Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Streit über geplantes Lieferkettengesetz
Wirtschaftsverbände wehren sich gegen zu viel Verantwortung
BERLIN (AFP/dpa/epd) - Das geplante Lieferkettengesetz stößt in Teilen der Wirtschaft auf scharfen Protest. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) bezeichnete es als „nicht verantwortbar“, dass deutsche Unternehmen für mögliche Verstöße, „die irgendwo in ihren Lieferketten passieren“, in Mithaftung genommen werden sollten.
Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) verteidigte das Vorhaben, das die Einhaltung von Umweltund Sozialstandards in den Lieferländern sicherstellen soll, am Mittwoch hingegen als „sehr sinnvoll“. Die Bundesregierung habe lange Zeit auf „Freiwilligkeit“gesetzt. Das habe aber nicht funktioniert. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stellte sich am Mittwoch hinter das Vorhaben. Merkels Sprecher Steffen Seibert sagte in Berlin, dass „eine nationale Gesetzgebung“geplant sei. Es würden Eckpunkte erarbeitet, die sowohl die Grundlage für ein deutsches Gesetz sein sollten sowie für eine deutsche Vorlage für europäische Verhandlungen zu dem Thema.
Hintergrund ist, dass die Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) am Dienstag angekündigt hatten, Unternehmen mit einem Lieferkettengesetz in die Pflicht nehmen zu wollen. Zuvor hatte eine Unternehmensbefragung ergeben, dass nur 455 von etwa 2250 im Rahmen des Nationalen Aktionsplans Wirtschaft und Menschenrechte (NAP) befragten Firmen mit mehr als 500 Beschäftigten umfassend Auskunft darüber gaben, inwiefern sie soziale und ökologische Mindeststandards in ihren globalen Lieferketten sicherstellen.
Während Gewerkschaften und Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen seit Langem darauf pochen, Unternehmen für Schäden an Mensch und Umwelt in ihren Lieferketten haftbar zu machen, hatten Wirtschaftsverbände zuletzt vor einer Zusatzbelastung für Firmen in der Corona-Krise gewarnt.
Der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland, Stefan Genth, sagte, ein nationales Gesetz würde die Textilhändler in Deutschland im internationalen Wettbewerb massiv benachteiligen. Unternehmen dürften nicht als „Ersatzpolizei“für die Einhaltung von
Recht und Gesetz in Produktionsländern herhalten.
Der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks beklagte in der „Passauer Neuen Presse“zudem, dass das Gesetz Rechtsunsicherheit bei vielen Betrieben zur Folge haben werde. „Diese Risiken würden für die nächsten Jahre wie ein Damoklesschwert über der deutschen Wirtschaft schweben“, sagte er der Zeitung. Aufgrund der internationalen Ausrichtung der hiesigen Wirtschaft träfe das Gesetz „die Breite der Unternehmenslandschaft“und damit auch kleine Firmen. Im Extremfall drohe, dass deutsche Betriebe sich aus manchen Ländern zurückzögen, sollten sie die Rechtsrisiken als zu groß einschätzen.
Beim Lieferkettengesetz geht es um ganz unterschiedliche Produkte – von Schokolade und Kaffee über Schuhe und Kleidung bis zu Industrieprodukten, für die Rohstoffe im Ausland abgebaut werden. Wie es um die Menschenrechte entlang der Lieferketten bestellt ist, lässt sich im Detail schwer beziffern. In einem Bericht von 2019 verweist die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) auf die schwierige Datenlage. „Nach den jüngsten globalen Schätzungen müssen 152 Millionen Minderjährige arbeiten, und 25 Millionen Kinder und Erwachsene müssen Zwangsarbeit verrichten, auch in globalen Lieferketten“, heißt es darin.
Nach Angaben des Entwicklungsministeriums ist keine große Industrienation so intensiv in internationale Lieferketten eingebunden wie Deutschland. Besonders abhängig von importierten Vorleistungen seien in Deutschland die Textilindustrie (63 Prozent ausländischer Wertschöpfung), die Elektronik (45 Prozent), die chemische und pharmazeutische Industrie (39 Prozent), die Lebensmittelindustrie (37 Prozent), die Automobilindustrie (29 Prozent) und der Maschinenbau (28 Prozent).