Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Unheimlich und spannend zugleich
Rimini Protokoll inszeniert in Stuttgart ein aufregendes „Phantomtheater für 1 Person“
STUTTGART - Was ist am beeindruckendsten? Der riesige Malsaal? Oder der Bühnenturm, der so hoch ist, dass einem schwindlig werden kann? Führungen durch die verborgenen Welten der Theater sind begehrt. Nun ist man allein unterwegs mit nichts als einer Stimme, die durch den Kopfhörer spricht und klare Kommandos gibt. Durch Gänge und Flure dirigiert sie einen, führt ins Requisitenlager und in die Werkstatt für Spezialeffekte, in die Maske und auf die Unterbühne. „Vorsichtig“, mahnt die Stimme, „jetzt auf den Hocker setzen“.
Es ist ein wenig unheimlich und spannend zugleich, was Stefan Kaegi von Rimini Protokoll nun am Schauspiel Stuttgart entwickelt hat: „Black Box – Phantomtheater für 1 Person“nennt sich die neue Produktion, bei der die Zuschauer einzeln auf Wanderschaft durch die „Gedärme“des Theaters geschickt werden, begleitet von einem bunten Stimmengewirr, von Geräuschen und Anweisungen auf einer perfekt ausgetüftelten Tonspur. Einsamkeit statt Gemeinschaftserlebnis.
Es wird gewöhnlich munter zugehen auf der Probebühne, auf der man nun allein an einem Tisch sitzt vor einem kleinen Bühnenbildmodell mit einer einzelnen Figur darauf. Nachdem dem Theater sozusagen der Stecker gezogen wurde, lässt der Regisseur Stefan Kaegi die Zuschauer wie eine Kamera durch die leeren Produktionsorte des Staatstheaters gleiten. Immer wieder lenkt die Stimme aus dem Off (Sylvana Krappatsch) den Blick auf Details, führt zur Luke des Souffleurs und ins Archiv, wo zahllose Programmhefte und Fotografien erinnern an Produktionen, die längst verhallt sind.
Wie von Geisterhand werden Lichter eingeschaltet oder Ventilatoren in Bewegung gesetzt. Immer wieder kommt es zu magischen Momenten, wenn sich plötzlich im Requisitenlager ein Globus zu drehen beginnt oder es auf einmal vor dem Treppenhausfenster regnet. In einer Werkstatt hängt vor dem (Keller-) fenster eine gemalte Alpenlandschaft, auf die Schnee rieselt. Dann wieder wackelt ein Tierkostüm auf dem Kleiderständer mit dem Schwanz.
Das ist es eben auch, was die Faszination des Theaters ausmacht, dass hier Kreativität lustvoll und oft noch in Handarbeit ausgelebt wird – auch wenn Michael Resch, der Direktor des Höchstleistungsrechenzentrums Stuttgart meint, dass Theater „zukunftsorientierter“sein könne. Er ist einer der Experten, die auf der Tonspur zu Wort kommen, für die sich Maskenbildnerin und Dramaturgin, Bühnentechniker und Beleuchtungsmeister mit Stuttgartern unterhalten und über Theorie und Praxis gesprochen haben, über Innenund Außensicht, über Lacke, Betonbeläge und Tapeten, über Zeit oder die Vortäuschung von Natur.
Nachdem man gut 50 Türen aufgemacht hat, Treppenhäuser hinaufgekeucht ist, durch Werkstätten gewandert und am Inspizientenpult Platz genommen hat, wird der einsame Wanderer schließlich selbst zum Schauspieler, der beklommen auf die Bühne schreiten muss und mitten im grellen Scheinwerferlicht steht – still und konzentriert, wie die Stimme es diktiert. Zum Finale treffen sich einige der Zuschauer, die in kurzen Abständen den Parcours absolvieren:
Einer sitzt am Inspizientenpult, einer drückt den Knopf für den Nebel – und mitten im leeren Zuschauerraum schaut eine einzelne Person zu. Gleich wird man sich verbeugen müssen und ihren Platz übernehmen.
Letztlich erwecken die Zuschauer das Theater zum Leben, so die Botschaft dieses geistreichen, aufregenden Theaterparcours, der aber doch einen bitteren Beigeschmack hat. Denn dass die Zuschauer nun eben selbst als Inspizient, Beleuchter und Darsteller aktiv werden müssen, wirkt wie Ironie des Schicksals. Vor wenigen Tagen wurde nun auch die Belegschaft des Staatstheaters in Kurzarbeit geschickt und fast der gesamte Corona-Ersatzspielplan gestrichen.