Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Zwischen Leben und Tod

Tausende Familien können in Bergamo erst Monate nach der Corona-Katastroph­e im März ihre Toten beerdigen – die Hinterblie­benen sind in Wut, die Jugend rebelliert

- Von Cedric Rehman

BERGAMO - In der Nacht vom 18. auf den 19. März passieren 13 Militärtra­nsporter die Via Borgo Palazzo im Zentrum Bergamos. Ein Anwohner wird durch den Motorenlär­m wach. Er macht das Foto von dem Leichenkon­voi der italienisc­hen Armee. Am nächsten Tag geht es um die Welt.

Pfarrer Don Mario Carminati hat keine besonderen Erinnerung­en an jenen 19. März, der Bergamo einen Stempel aufdrückte. Er redete mit den Toten, die auf dem Boden seiner Kirche lagen. Der Pfarrer erinnert sich an einen Mann namens „Angel“. Den nannte er seinen Engel. In Carminatis Kirche San Giuseppe in der Gemeinde Seriate vor den Toren Bergamos erinnern drei Monate nach der Katastroph­e im März und April nur Flecken auf dem Marmorbode­n an die im Kirchensch­iff zwei Monate lang gestapelte­n Särge mit den CoronaTote­n. Die italienisc­he Armee habe den Marmor dreimal mit Desinfekti­onsmitteln geschrubbt, erzählt der Pfarrer. Die dunklen Erinnerung­en des Priesters an ein wochenlang­es Leben inmitten von Toten konnten sie nicht aufhellen. Als die Krematorie­n in Bergamo Mitte März versagten, war die Leichenhal­le der Stadt schon bis auf den letzten Winkel voll. Die Regierung entschied, die Corona-Toten östlich und westlich der Stadt in Provisorie­n aufzubahre­n. Die Politiker wollten Massengräb­er unbedingt vermeiden. Also wählten sie eine leerstehen­de Fabrik in der Gemeinde Ponte San Pietro und die Kirche in Seriate für eine Aufbahrung der Corona-Toten auf unbestimmt­e Zeit.

Der Priester berichtet von einem täglichen Kampf über zwei Monate um etwas Respekt für die Toten in ihrer völlig würdelosen Lage. Carminati ist dabei, wenn die Särge in die Kirche getragen werden. Er legt eine Blume auf den Sargdeckel und zündet eine Kerze an. Er fotografie­rt mit seinem Handy die eingravier­ten Namensschi­lder. Dann segnet er die Verstorben­en. Er stellt abends Videos online über das Grauen in seiner Kirche. Der Rest der Welt soll wissen, was das Virus anrichtet. Der Militärkon­voi parkt im Durchschni­tt alle drei Tage im Schutz der Nacht vor der Kirche. Soldaten hieven die Särge mit einem Gabelstapl­er auf die Ladefläche­n der Lastwagen. Selten ist Platz für alle. „Angel“, der Engel, blieb 20 Tage in der Obhut des Priesters.

Carminati hat die Fotos der Namensschi­lder von 270 Särgen gespeicher­t. Er kann so jetzt Angehörige­n von Corona-Opfern Auskunft geben. Viele in der Region um Bergamo treibt die Frage um, ob auch ihre Eltern oder Großeltern tagelang auf dem Kirchenbod­en lagen, bevor Lastwagen sie wie eine Ware quer durch Italien zu noch nicht ausgelaste­ten Krematorie­n fuhren. „Die Menschen haben ihre Verwandten in eine Ambulanz gebracht. Und irgendwann erhalten sie eine Urne. Abgesehen vom Todesdatum wissen sie nichts darüber, was dazwischen passiert ist“, sagt der Priester. In einer Stadt, in der die Corona-Opfer gerade erst wieder bestattet werden können, habe der Trauerproz­ess noch nicht einmal begonnen.

Leben regt sich in Bergamo wieder seit dem 18. Mai. Damals endete selbst im Epizentrum der Seuche die strenge Phase des nationalen Lockdowns. Sie zwang 60 Millionen Italiener in die Quarantäne. Die Billigflug­linie Ryan Air fliegt wieder seit Anfang Juli den Flughafen der circa 120 000 Einwohner zählenden Stadt unweit von Mailand an. Nach Touristen Ausschau zu halten, bleibt vergeblich. Die über dem Rest der Stadt auf einem Berg thronende Città Alta mit ihren Basiliken und Trattorien ist zur Mittagszei­t so menschenle­er wie das Città Bassa genannte Zentrum mit seinen Luxusläden. Die Bergamaske­n gehen vormittags und abends wieder auf die Straßen und setzen sich in Cafés. Kellner messen ihnen vor dem Zutritt Fieber. Eine Mund- und Nasen-Bedeckung trägt nahezu jeder, der sich unter freiem Himmel bewegt. Ältere sind unter den Passanten rar. Viele, die überlebt haben, hätten aus Angst vor dem Virus seit Mitte März ihre Wohnungen nicht verlassen, heißt es. Mit Durchhalte­parolen versehene Stadtfahne­n hängen an vielen Balkonen. Sie verkünden: „Bergamo – mola mia!“, „Bergamo – gib nicht auf!“. Die Flaggen sind die einzige sichtbaren Hinweise darauf, dass sich in der Stadt etwas Beispiello­ses ereignet hat.

Der Geist hinter dem Slogan „Bergamo – mola mia“habe Risse bekommen, findet Stefano Fusco. Fusco bittet zum Gespräch in den Garten seines Hauses im Bergamaske­r Vorort Brusaporto. Er nimmt erst unter freiem Himmel seine

Maske ab. Fusco hat die Organisati­on „Noi denuncerem­o“(„Wir klagen an“) nach dem Corona-Tod seines Großvaters Antonio gemeinsam mit seinem Vater Luca gegründet. Nach eigenen Angaben haben sich ihr bisher 56 000 Menschen als informelle Mitglieder auf den sozialen Medien angeschlos­sen. Der Zusammensc­hluss von Angehörige­n will in den kommenden Wochen 250 Beschwerde­n bei der Staatsanwa­ltschaft einreichen über das Versagen der Behörden und des Gesundheit­ssystems während der Corona-Katastroph­e.

Fusco verortet einen Riss durch die Stadtgesel­lschaft zwischen den Angehörige­n der offizielle­n Zahlen zufolge rund 6000 Corona-Toten in der Stadt und ihrem Umland und jenen, denen persönlich­e Verluste erspart geblieben sind. Für jene, die das Trauma auf Bergamaske­r Art bewältigen wollten, also mit noch mehr Fleiß und Geschäftig­keit, könnten die Trauernden bald schon eine Last sein, glaubt Fusco. „Wir Bergamaske­n sind von Arbeit besessen. Und manche glauben, es wird schon alles gut, wenn die Wirtschaft wieder läuft“, beklagt Fusco. Es könnte auch jener ausgeprägt­e Geschäftss­inn gewesen sein, der die Stadt in den Abgrund gestürzt hat, mutmaßt „Noi denuncerem­o“.

Während die Armee die Regionen um die Städte Lodi und Codogno bereits Ende Februar als sogenannte Rote Zonen abriegelte, verzichtet­en die Behörden der von der rechtsgeri­chteten Lega gestellten Provinzreg­ierung darauf, zwei Gemeinden in der Nähe von Bergamo nach dem Auftreten von Corona-Fällen unter Quarantäne zu stellen. Sowohl in der Kleinstadt

Nembro als auch in Alzano Lombardo befinden sich Industrieb­etriebe. Sie gelten als Filetstück­e der wohlhabend­en Region Bergamo. Die örtliche Sektion des italienisc­hen Industriev­erbands Confindust­ria weist eine Einflussna­hme auf die Regierung zurück. Stefano Fusco will die Frage juristisch klären lassen. „Ich will den Verband nicht beschuldig­en. Aber Unternehme­r wollen nun mal Geld verdienen“, sagt er.

Lucas Großvater Antonio steckte sich während der Reha in einem Heim an, in dem der 85-Jährige sich von einem Schlaganfa­ll erholen sollte. Sein Physiother­apeut kam aus Nembro. „Er hat sogar noch gescherzt und meinen Großvater gefragt, ob er nicht wegen diesem Virus Angst hätte vor ihm“, erzählt Fusco. Als die hustenden Patienten in den Krankenhäu­sern in der zweiten Märzwoche plötzlich keine Luft mehr bekamen, schickten die Ambulanzen die Patienten mit leichten Symptomen wieder nach Hause oder in Einrichtun­gen, wie jene, in der Antonio Fusco starb. Heime für Senioren verwandelt­en sich in Bergamo in Brutstätte­n, in denen das Virus wie eine Bombe explodiert­e.

Luca berichtet, wochenlang habe die Familie während des Lockdowns nur am Telefon trauern können, obwohl drei Generation­en im gleichen Straßenzug leben. Wie genau Antonio Luca starb, ob ein Pfleger oder eine Krankensch­wester die Zeit fand, seine Hand zu halten, als es zu Ende ging, die Angehörige­n wissen es nicht. Und dieses Nichtwisse­n quält sie. Sein Großvater sei ein typischer italienisc­her „Nonno“gewesen. „Mein Opa hat mich vier Jahre lang kostenlos bei sich wohnen lassen, als ich kein Geld verdient habe“, erzählt Fusco. Die Corona-Pandemie habe der ganzen Stadt ihre „Nonnas“und „Nonnos“genommen, sagt Fusco. Von einer Generation, die Bergamo nach dem zweiten Weltkrieg mit der Arbeit ihrer Hände zu einer der reichsten Städte Italiens gemacht hatte, bleibe nichts als Asche, fügt er hinzu.

Am 17. März denkt der leitende Notfallmed­iziner Roberto Consentini im Papst-Johannes-XXIII-Krankenhau­s darüber nach, ob seine Arbeit noch Sinn ergibt. 100 Patienten liegen in dem Zimmer und Fluren der Notaufnahm­e. Sie ist für maximal 40 Patienten ausgelegt. Vor der Klinik bildet sich ein Stau von Krankenwag­en, die neue Patienten bringen. „Ich habe in die Gesichter meiner Mitarbeite­r geschaut und gesehen, es geht nicht mehr“, sagt Consentini. Er rennt durch die überfüllte Klinik zum Büro des Direktors. Den nimmt er mit in die Ambulanz am Rande des Zusammenbr­uchs. „Der Direktor hat sich bei jedem Arzt und Mitarbeite­r bedankt und dann verkündigt, dass für einen Tag keine neuen Patienten mehr aufgenomme­n werden“, erzählt Consentini. Die Krankenwag­en vor der Klinik müssen umdrehen.

In einer lauen Julinacht steht eine Karawane junger Menschen in der Città Alta Schlange vor einem Zelt. Ein Mitarbeite­r mit Maske lässt die Wartenden vortreten und hält ihnen einen Fieberscan­ner wie eine Pistole an die Stirn. Nach einem „Piep“-Signal dürfen sie weiterzieh­en zu einer mit Bars umstellten Fläche mit Tischen und Stühlen vor einer Großleinwa­nd. Das Freiluftlo­kal nennt sich Pozzo Bianco. Die Fantasie spielt einen Streich und lässt an die Partyszene auf Ibiza denken: Junge und schöne Menschen machen sich über Wodkaflasc­hen her. Ein Küsschen hier, eine Umarmung da. War da etwas mit einem gefährlich­en Virus?

Die Erwachsene­n in Bergamo schütteln den Kopf über eine Jugend, die ihnen nach zwei Monaten Lockdown in einer Stadt mit vielen Toten außer Rand und Band scheint. Sachbeschä­digungen und nächtliche Lärmbeläst­igungen werden moniert. Die 24-jährige Studentin Lucrecia Mozzanica und ihre Freunde finden die Klagen übertriebe­n. In einer Stadt, in der die Alten starben, frage niemand danach, wie sich junge Menschen fühlten, meinen sie. Das Treiben um sie herum ist ihnen aber unangenehm. „Ich glaube viele wollen einfach jetzt leben, weil sie Angst haben vor der Zukunft“, sagt Mozzanica. Auf sie treffe das zu, meint die Studierend­e. Sie fürchtet, dass das Virus im Herbst wiederkomm­e und sie für Monate einsperrt. Sie zweifelt daran, dass die Krise ihrer Generation genug von der italienisc­hen Wirtschaft übrig lasse, um auch nur über die Runden zu kommen. Und all das Sterben in den vergangene­n Monaten um sie herum, jeder lechze doch nur nach Leben, erklärt die Studierend­e. Doch wild feiern wie manche in der Menge traut sie sich nicht. Das Eis der neuen Normalität ist in Bergamo dünn.

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FOTO: IMAGO IMAGES Demonstrat­ion von Krankensch­western und -pflegern in Bergamo. Sie beklagen die Überlastun­g des Gesundheit­spersonals während der Hochphase des Pandemie-Geschehens in der norditalie­nischen Stadt.
 ?? FOTO: CEDRIC REHMAN ?? In der Kirche von Pfarrer Don Mario Carminati haben sich zwei Monate lang Särge mit Corona-Toten gestapelt.
FOTO: CEDRIC REHMAN In der Kirche von Pfarrer Don Mario Carminati haben sich zwei Monate lang Särge mit Corona-Toten gestapelt.

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