Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Eine Geduldsprobe
EU-Sondergipfel am Wochenende wird mehrfach unterbrochen – „Sparsame Vier“geben nur wenig nach
BRÜSSEL - Ein im komplizierten belgischen Politgeschäft vorgeschulter Ratspräsident, ein eng abgestimmtes deutsch-französisches Gespann, die erste persönliche Begegnung aller 27 EU-Chefs seit vielen Monaten – die Voraussetzungen schienen günstig, um eine zügige Einigung bei den Brüsseler Finanzverhandlungen zu ermöglichen. Doch am späten Sonntagnachmittag, Tag drei des alle sieben Jahre wiederkehrenden großen Geschachers, lagen die Widersacher noch meilenweit auseinander.
Im Vorfeld hatten Experten prophezeit, dass ein zusätzlich zum 1000 Milliarden Euro schweren Siebenjahreshaushalt gefüllter Topf von 750 Milliarden Euro die Einigung beschleunigen würde. Eine riesige Summe soll in möglichst kurzer Zeit ausgegeben werden, um die europäische Wirtschaft nach der Pandemie wieder anspringen zu lassen. Da müsste es doch möglich sein, die Wohltaten so zu verteilen, dass jeder Regierungschef seinen Wählern ein schönes Geschenk mit nach Hause bringen kann. Auch wurde vermutet, das pandemiebedingte Hausverbot für die Presse könnte manchen unbeobachteten Kuhhandel ermöglichen. Doch viele Regierungschefs hatten dann doch das Bedürfnis, Signale aus dem Raumschiff Brüssel in die Heimat
zu senden. Per Email oder WhatsApp wurden ein paar Landsleute mit Stift und Kamera zusammengetrommelt, um Botschaften oder Bosheiten loszuwerden. „Ich weiß nicht, warum mich der holländische Premierminister hasst, aber er greift mich so brutal an“, klagte Ungarns Premier Victor Orban. „Er findet, dass Ungarn kein Rechtsstaat ist und deshalb finanziell abgestraft werden muss – das ist seine Meinung.“Auch führten sich die „reichen“Länder auf wie verwöhnte Aristokraten und wollten unbedingt Rabatte auf ihren Beitrag zum EUHaushalt herausschlagen. Das aber sei mit ihm, Orban, nicht zu machen. Einer der Angesprochenen feuerte kurze Zeit später ungerührt zurück.
Österreichs Kanzler Sebastian Kurz wählte dafür nicht, wie Orban, eine belebte Straßenecke neben dem Botschaftsgebäude, sondern ließ seine Äußerungen über den EU-eigenen Fernsehkanal in die Welt verteilen. „Ich bin ja auch hier, um die Interessen der österreichischen Steuerzahler zu vertreten“, erläuterte Kurz.
„Zunächst lag ein Rabattvorschlag von jährlich 137 Millionen auf dem Tisch, dann waren es 237 Millionen, zuletzt 287 Millionen – hier entwickeln sich die Dinge in die richtige und auch in eine gerechte Richtung.“Kurz vertritt zusammen mit Holland, Schweden und Dänemark die Gruppe der „sparsamen Vier“, die eine strenge Kontrolle darüber verlangen, dass der Geldsegen von den Südländern nicht verschleudert, sondern für ökologische und technologische Reformen eingesetzt wird. Die vier Länder leiden darunter, dass das wirtschaftsmächtige Großbritannien den Club verlassen hat und die Freunde der schwarzen Null entsprechend weniger Gewicht haben. Umso mehr freute sich Kurz gestern darüber, dass sich mittlerweile Finnland zu dieser Gruppe gesellt, „was unsere Verhandlungsposition noch einmal gestärkt hat“, so der Österreicher zufrieden.
Die Gruppe plädierte für eine Verringerung des geplanten Krisenprogramms auf 700 Milliarden Euro, davon 350 Milliarden an Zuschüssen, die die Empfänger nicht zurückzahlen müssen. Bisher waren 750 Milliarden Euro insgesamt im Gespräch, davon 500 Milliarden als Zuschuss. Von den ursprünglich genannten 500 Milliarden Euro an Zuschüssen war Ratschef Charles Michel schon am Samstag auf 450 Milliarden zurückgegangen. Die „Sparsamen Vier“wollten ursprünglich Null, wie ein EU-Diplomat sagte. Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Macron nannten nach Angaben von Diplomaten 400 Milliarden Euro als Untergrenze. Insgesamt sind es vier große Themenbereiche, um die gestritten wird. Ist das Finanzpaket zu groß oder zu klein? Welcher Teil sollte als Subvention, welcher Teil als Kredit vergeben werden? Während sich Deutschland als größtes Geberland bei dieser Frage zurückhält, feilschen die mittlerweile fünf „Sparsamen“um jeden Cent, weil ihnen daheim die Abgeordneten ihrer Parlamente im Nacken sitzen. Das zweite Reizthema ist die Frage der Kontrolle. Hat die EUKommission das letzte Wort darüber, ob ein Land die Mittel sinnvoll einsetzt oder gibt es ein Vetorecht jeder einzelnen Regierung?
Der dritte Streitpunkt sind Rabatte und Eigenmittel. Dürfen Länder Teile ihrer Zolleinkünfte behalten oder müssen sie alles an Brüssel abführen? Bekommt der EU-Haushalt Einkünfte aus dem Emissionshandel oder kann der Erlös der CO2-Zertifikate national verplant werden? Punkt vier ist das Thema Rechtsstaatlichkeit. Mehrere Länder wollen Subventionen kürzen, wenn ein Land seine Gerichte gängelt oder die Medienfreiheit einschränkt. Ungarn und Polen blockieren diesen Vorschlag.
Zumindest bis zum Redaktionsschluss am Sonntagabend, hatten die Regierungsschefs noch keinen Kompromiss gefunden.