Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ein Leben für die Gleichberechtigung
US-Bürgerrechtler John Lewis stirbt mit 80 Jahren – Doch sein Kampf ist lebendiger denn je
WASHINGTON - Das letzte Mal, dass ihn die Öffentlichkeit zu Gesicht bekam, war vor sechs Wochen gewesen. Abgemagert, gezeichnet von Krebs und Chemotherapie, lief John Lewis, eine Maske vor Mund und Nase, über die 16th Street in Washington, nur durch den Lafayette Park, ein überschaubares Rasenviereck, vom Weißen Haus getrennt. Aktivisten hatten mit gelber Farbe in Riesenlettern die Parole „Black Lives Matter“auf den Asphalt gemalt, und Lewis sprach davon, wie sehr ihn die Proteste nach dem Tod George Floyds beeindruckten. Es sei bewegend, so viele Menschen zu sehen, sowohl in Amerika als auch rund um den Globus, die auf die Straße gingen, „um in das hineinzugeraten, was ich den guten Streit nenne“.
Der gute, fruchtbare Streit. Er hat das Leben des Mannes geprägt, der im Alter von 80 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb. In Troy, Alabama, wo er zwischen Baumwollfeldern als eines von zehn Kindern in einer Familie armer Landpächter aufwuchs, schärften ihm Eltern und Großeltern noch ein, dass er sich bloß keinen Ärger einhandeln möge. Er solle keinem in die Quere kommen, die Rassentrennung des amerikanischen Südens als Fakt akzeptieren. So erzählte es Lewis einmal dem Radiosender NPR und fügte hinzu, dass der Prediger Martin Luther King und die Näherin Rosa Parks, die sich weigerte, für einen Weißen von ihrem Sitz im Bus aufzustehen, andere Signale gesetzt hätten. „Ich weiß nicht, wo unsere Nation heute stünde, hätte es nicht diesen zivilen Ungehorsam gegeben.“
Die Nation wird einem der Großen der Bürgerrechtsbewegung mit einem Staatsbegräbnis die letzte Ehre erweisen. So viel steht wohl schon fest, auch wenn noch nicht alle Details geklärt sind. Kaum hatte die Nachricht von seinem Tod die Runde gemacht, erwiesen ihm alle noch lebenden Altpräsidenten ihre Reverenz, am eloquentesten Barack Obama, der in Lewis immer einen der Wegbereiter gesehen hatte, ohne deren Courage er nie ins höchste Staatsamt gewählt worden wäre. „Because of you, John“, schrieb er im Januar 2009 auf ein Foto, das ihn, den ersten US-Präsidenten mit dunkler Haut, bei seiner Amtseinführung zeigte. Er stehe auf Lewis‘ Schultern, blendete er in seiner Eloge zurück.
Donald Trump ließ zwar die Flaggen am Weißen Haus auf halbmast setzen, doch es dauerte Stunden, bis auch er Trauer bekundete. Als er sich schließlich via Twitter zu Wort meldete, am Samstagnachmittag nach einer Golfpartie in Virginia, standen die beliebigen Worte in auffälligem Kontrast zu dem, was seine Vorgänger, eingeschlossen der Republikaner George W. Bush, zu sagen hatten. „Traurig, vom Ableben des Bürgerrechtshelden John Lewis zu hören.“Einmal mehr wirkte es so, als wäre Trump nicht in der Lage, Größe zu zeigen und ein Kriegsbeil zu begraben. Lewis hatte sich geweigert, an der Feier zu seiner Vereidigung teilzunehmen. Dies sei kein legitimer Präsident, protestierte er, sondern einer, der seinen Sieg der Einmischung
Russlands verdanke. Trump quittierte es mit dem Hinweis auf Probleme in Lewis’ „verbrechensverseuchtem“Wahlkreis in Atlanta, denen der Herr Abgeordnete offensichtlich zu wenig Zeit widme. Vor Monaten, als die Demokraten den Präsidenten seines Amtes zu entheben versuchten, gehörte der Veteran aus dem Süden zu den entschiedensten Fürsprechern des Impeachments.
Ginge man allein nach dem Parlaments-Almanach, war Lewis einer von 435 Abgeordneten des Repräsentantenhauses, 1986 zum ersten Mal und danach alle zwei Jahre stets von neuem gewählt. Tatsächlich war er viel, viel mehr. Moralisches Gewissen, Symbolfigur friedlichen Widerstands. Rhetorisch konnte er den großen Rednern der Bürgerrechtsbewegung, allen voran King, nicht das Wasser reichen, dazu mangelte es ihm an Leichtigkeit und Improvisationstalent. Seine Stärken waren andere: Kampfgeist, Durchhaltevermögen, ein geradezu stures Wir-geben-nicht-auf, weshalb ihn manche mit Winston Churchill vergleichen. Obwohl er nie anders als gewaltlos demonstrierte, landete er um die 40 Mal hinter Gittern. Den elterlichen Rat ignorierend, schloss er sich den „Freedom Riders“an, jener Gruppe schwarzer und weißer Aktivisten, die in Überlandbussen durch Georgia, Mississippi, Alabama fuhren, die Vorschriften der Südstaaten-Apartheid bewusst ignorierend. 1961 wurde er von einem Mob in Rock Hill, South Carolina, schlimm verprügelt, weil er es wagte, sich in den Wartesaal eines Busbahnhofs zu setzen, zu dem nur Weiße Zutritt hatten. Dann der 7. März 1965, der als Blutiger Sonntag in die Annalen eingehen sollte. Mit sechshundert Gleichgesinnten lief Lewis über die Edmund Pettus Bridge in Selma. Bis nach Montgomery, in die Hauptstadt Alabamas, wollten sie marschieren, um die Gleichberechtigung schwarzer Amerikaner an den Wahlurnen einzufordern. Doch schon am Ende der Brücke warteten 150 Polizisten, die meisten State Trooper, Beamte des Bundesstaats. Während der Gestank von Tränengas die Luft erfüllte, knüppelten die Trooper mit Schlagstöcken auf die Bürgerrechtler ein. Lewis wurde so hart am Kopf getroffen, dass er eine Schädelfraktur erlitt. Wie er es, zwischenzeitlich bewusstlos, über die Brücke zurück nach Selma schaffte, sagte er später, das wisse er beim besten Willen nicht mehr.