Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Europa droht Türkei mit Sanktionen
Verstöße gegen UN-Waffenembargo im Libyen-Konflikt verschärfen internationale Spannungen
INSTANBUL - Im Libyen-Konflikt nehmen die Spannungen zu. Regierungstreue Milizen rückten am Wochenende weiter auf Sirte und die nahegelegenen Ölquellen vor. Die international anerkannte Regierung in Tripolis bereitet den Angriff gemeinsam mit der Türkei vor, die in den vergangenen Monaten Tausende Kämpfer aus Syrien sowie schwere Waffen in das nordafrikanische Land geschickt hat. Rebellengeneral Khalifa Haftar, der durch den Vormarsch der Regierungstruppen in die Defensive geraten ist, wünscht sich zur Abwehr des erwarteten Angriffs auf Sirte eine Intervention seiner Schutzmacht Ägypten. Mitten in dieser Eskalation veröffentlichten Deutschland, Frankreich und Italien eine Sanktionsdrohung gegen die Türkei.
Sirte ist wegen seiner zentralen Lage und der Ölquellen in seiner Umgebung für alle Seiten im LibyenKonflikt wichtig. Ein Angriff Haftars auf die Hauptstadt Tripolis im Westen des Landes war in den vergangenen Monaten wegen der türkischen Hilfe für die Regierung gescheitert; seitdem ist der General, dessen Machtbasis in Ostlibyen liegt, auf dem Rückzug. Eine Niederlage in Sirte könnte den Krieg zugunsten der Regierung entscheiden. In dem Land, das nach der Entmachtung von Diktator Muammar Gaddafi vor neun Jahren ins Chaos stürzte und seit 2014 zwei rivalisierende Regierungen hat, mischen mehrere ausländische
Mächte mit. Ihnen geht es um Einfluss in Nordafrika und um einen Anteil am Ölreichtum Libyens. Auch regionalpolitische Rivalitäten spielen eine Rolle. Während die Türkei auf der Seite der Regierung in Tripolis steht, erhält Haftar Unterstützung von Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Russland. In der EU gehört Frankreich zu den Unterstützern des Rebellengenerals.
Seitdem der militärische Druck auf Haftar wächst, werden die ägyptischen Warnungen an die Türkei lauter. Die beiden Länder sind seit Jahren miteinander verfeindet; die Regierung in Kairo will unter allen Umständen vermeiden, dass sich der türkische Einfluss in Libyen bis an die ägyptische Grenze ausbreitet. Präsident Abdel Fattah al-Sisi hat deshalb Sirte zu einer „roten Linie“erklärt. Das mit Haftar verbündete Parlament
im ostlibyschen Benghazi bat Ägypten vor wenigen Tagen offiziell um eine Militärintervention. Sisi sagte am Wochenende, sein Land werde im Fall eines Angriffs auf Sirte nicht tatenlos zuschauen.
Das UN-Waffenembargo für Libyen wird von allen Seiten ignoriert. Die Türkei hat nach Erkenntnissen des US-Verteidigungsministeriums allein in den ersten drei Monaten des Jahres fast 4000 Kämpfer aus Syrien nach Libyen geschickt. Die Söldner werden von Ankara bezahlt und verstärken die Reihen der regierungstreuen Milizen, die auch von türkischen Kampfdrohnen und anderen Waffen profitieren. Beobachter des Luftverkehrs zwischen der Türkei und Libyen melden in jüngster Zeit vermehrte militärische Transportflüge in das nordafrikanische Land. Dem Pentagon zufolge bietet Russland zur
Verstärkung von Haftars Truppen bis zu 2500 russische und syrische Söldner auf; die VAE organisierten die Verlegung Tausender sudanesischer Kämpfer nach Libyen. Die Türkei wirft auch Frankreich vor, Haftar mit Waffen zu versorgen; im vergangenen Jahr waren in einem Waffenlager Haftars französische Raketen gefunden worden. Die Regierung in Paris weist alle Vorwürfe zurück und beschuldigt die Türkei, internationale Kontrollen mutmaßlicher Waffenlieferungen nach Libyen mit Kriegsschiffen zu verhindern.
Die neue europäische Erklärung zu Libyen verstärkt die Spannungen zwischen Frankreich und der Türkei weiter. In der Stellungnahme bekennen sich Deutschland, Frankreich und Italien zur EU-Kontrollmission Irini im östlichen Mittelmeer und drohen bei Verstößen gegen das Waffenembargo für Libyen mit Sanktionen. Da Irini lediglich die Transportwege zur See kontrolliert, bezieht sich die Sanktionsdrohung allein auf die Türkei: Nur Ankara schickt Waffen per Schiff nach Libyen.
Waffentransporte über Land aus Ägypten oder per Luftweg aus Russland oder den VAE werden von den Europäern dagegen nicht kontrolliert, wie die amerikanische Regierung vor wenigen Tagen kritisierte. Die Europäer könnten zumindest alle Embargo-Brecher beim Namen nennen, wenn sie schon nicht alle Transporte überprüften, sagte der NahostAbteilungsleiter im US-Außenministerium, David Schenker.