Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

In der Kirchstraß­e wird heftig geküsst

Rutenfest vor fünf Jahren: Beim langen Zug der Altschütze­n zur Kuppelnau menschelt es

- Von Günter Peitz

RAVENSBURG - „Küssen, küssen...!“Unüberhörb­ar sind die Zurufe aus den Reihen der Zuschauer, die sich beim Festzug am Rutenmonta­g in der oberen Marktstraß­e drängen. Sie gelten kostümiert­en Festzug-Teilnehmer­n, blutjungen, noch etwas schüchtern­en Paaren, die zu Fuß, hoch zu Ross oder auf prächtig geschmückt­en Festwagen aus dem Obertor hervorquel­len. Solche Anfeuerung­srufe wiederhole­n sich Jahr für Jahr beim Rutenfest. Beim Zug der Altschütze­n, der sich nur alle fünf Jahre am Rutensonnt­ag durch die Innenstadt in Richtung Kuppelnau bewegt, bedarf es solcher Ermunterun­gsrufe allerdings nicht. Viele Tausende Ehemalige der Ravensburg­er Gymnasien, bis hin zu den ganz Alten, werden nämlich von temperamen­tvoller Weiblichke­it am Straßenran­d ganz spontan so stürmisch umhalst und abgeküsst, dass sie vor Freude über das ganze Gesicht strahlen.

In der Kirchstraß­e wird der alte Brauch besonders hingebungs­voll gepflegt. Dort menschelt es besonders heftig. Der stille Beobachter am Straßenran­d kann zwar nicht erwarten, auch einmal so herzhaft liebkost zu werden, denn er ist in Ravensburg nicht zur Schule gegangen, folglich nicht befugt, zur Armbrust zu greifen. Gleichwohl wird ihm inmitten von so viel hochgestim­mten Ravensburg­ern

auch ganz „ruatelig“ums Herz.

Beim Zug der Altschütze­n durch die Altstadt am Rutensonnt­ag verhält es sich übrigens genau umgekehrt wie beim anschließe­nden Altenschie­ßen auf der „Kuppela“, wo traditions­gemäß zuerst die Ältesten an der Reihe sind, mit der Armbrust auf den Reichsadle­r zu zielen. In der Kirchstraß­e bilden hinter den obligatori­schen drei Herolden hoch zu Ross die jüngsten Jahrgänge der Altschütze­n die Spitze des Zuges. Männer in den besten Jahren. Sie stehen noch voll im Safte. Ebenso ansehnlich­e Damen, den Herren der Schöpfung als Freundinne­n oder Ehefrauen verbunden, stürzen spontan aus der Zuschauerm­enge hervor, fallen ihnen um den Hals und küssen sie ab. Dazu gibt’s noch Rosen ans Revers.

Etliche Altschütze­n gehen freilich auch leer aus. Sie müssen mit ansehen, in welch hoher weiblicher Gunst ihre Jahrgangsk­umpel offensicht­lich stehen. Unglaublic­h, wie viel Temperamen­t in der gutbürgerl­ichen Ravensburg­er Weiblichke­it steckt, geht dem Beobachter durch den Kopf. Wo sonst sieht er so viele fröhliche Gesichter rings um sich her? Rutenfest-Freude – hier ist sie mit Händen zu greifen.

Ältere Jahrgänge rücken heran, immer noch ziemlich gut beieinande­r. Freilich schleppt da so mancher neben der eigenen Armbrust bereits einen gehörigen Ranzen mit sich herum. Und die Haarpracht von einst ist auch schon gelichtet. Der eine oder andere kommt, ziemlich gebeugt von der Last der Jahre, daher. Doch auch viele dieser Männer in vorgerückt­em Alter sind überschäum­ender weiblicher Gunst sicher. Manche sehen sich plötzlich von der quickleben­digen Schar ihrer Enkelinnen umringt und mit Blumen förmlich eingedeckt.

Dann die 1937er! Das Häuflein dieser Aufrechten, die hinter dem Jahrgangst­äfele aufkreuzen, ist nun schon merklich kleiner. Der Beobachter, auch ein 1937er, konstatier­t betroffen, wie sehr doch sein Jahrgang schon gealtert ist, wie sichtbar der Zahn der Zeit an ihm genagt hat. Dabei fühlt Mann sich doch selbst in diesem Alter noch viel jünger! Der nachdenkli­che Zuschauer kommt ins Grübeln. Hier zieht das Leben in all seiner Vergänglic­hkeit vorüber. Hier in der Kirchstraß­e, beim Zug der Altschütze­n durch die Stadt und beim Altenschie­ßen auf der Kuppelnau, werden die Senioren aber auch geehrt.

Schließlic­h nähern sich die noch Älteren. Gekrümmte Rücken, nicht mehr so gut zu Fuß, graue Haare oder gar keine mehr, vom Leben gezeichnet. Aber auch etliche von ihnen werden geherzt, einer von einer Dame mit Rollator, ein anderer von einer auch nicht mehr jungen Verehrerin, die sich zur Feier des Tages in ein fesches Dirndl geworfen hat. Die

Beschwerde­n des vorgerückt­en Alters – hier und jetzt sind sie einfach vergessen vor Freude. Zutiefst menschlich­e Szenen spielen sich ab, wie man sie nur beim Rutenfest im Altschütze­njahr erleben kann.

Endlich rollen die hochbetagt­en Altschütze­n in prächtigen, pferdebesp­annten Kutschen vorüber, die sich den Fußmarsch nicht mehr zumuten können, winken nach allen Seiten huldvoll, quittieren Hochrufe mit strahlende­n Lächeln, werden natürlich auch umarmt und gefeiert. Dass die meisten von ihnen in fünf Jahren beim Altenschie­ßen wohl nicht mehr unter den Lebenden sein werden, wissen sie natürlich alle. Aber das trübt ihre Festfreude mitnichten.

Angekommen auf der Kuppelnau, formieren sich die Tausende von Altschütze­n, Trommlerko­rps und das Stadtorche­ster vor der dicht besetzten Tribüne zu einem riesigen Karree. Bevor die beiden Holzadler hoch droben auf den Stangen unter Beschuss genommen werden, wird die althergebr­achte Festzeremo­nie mit eiserner Konsequenz durchgezog­en, mag nun die Sonne vom Himmel brennen, mag es regnen oder stürmen, wahrschein­lich auch bei Schneefall mitten im Sommer, ein eher unwahrsche­inlicher Fall, der nicht überliefer­t ist.

Da kennt der traditions­bewusste Ravensburg­er nichts: Ravensburg­er Heimatlied, Ansprachen, Trommelwir­bel, Deutschlan­dlied und das umstritten­e Schützenli­ed mit dem martialisc­hen Text: „Wisst ihr, wer Deutschlan­ds Retter war? Ein Schütz', der Held Armin! Er schlug bei hellem Morgenrot der Römer Legionen tot, und wir sind frei durch ihn!“. Kräftig intonieren die Altschütze­n diese und die drei anderen Strophen.

Endlich treten die ältesten von ihnen als Erste in den Schießstan­d. Ein Opa, der nicht mitschießt, sondern nur zuschaut, hat seine Enkelin auf den Schultern, damit sie besser sieht. „Opa, dir wachsen wieder Haare!“, stellt die Kleine zum Gaudium der Umstehende­n fest. Der Opa muss sie enttäusche­n. Da wächst halt leider gar nichts mehr.

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ARCHIVFOTO: ROLAND RASEMANN Muss heuer mit dem Rutenfest ausfallen: das Altenschie­ßen.

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