Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Zwischen Chaos und Ignoranz
Lateinamerika hat sich zum Epizentrum der Pandemie entwickelt – Einige Staatschefs verschlimmern die Situation
MEXIKO-STADT - Die ersten Julitage sind in Chile oft Tage des Protestes. Es ist eine Tradition, die aus Zeiten der Diktatur von Augusto Pinochet stammt, als die Menschen am 2. und 3. Juli 1986 eine demokratische Öffnung forderten. Auch in Zeiten der Demokratie gehen die Chilenen in diesen Tagen wieder auf die Straße. Heute geht es nicht mehr um das Ende der Gewaltherrschaft, heute geht es gegen den ungeliebten Präsidenten Sebastián Piñera, seine Corona-Politik, seine Repression der Proteste und den neoliberalen Gesellschaftsentwurf, dessen Folgen sich auch in der Pandemie bemerkbar und den Menschen zu schaffen machen.
Nach mehr als hundert Tagen Lockdown haben die Chilenen einfach die Nase voll und Angst um ihre Existenz. Nicht nur wegen der rund 320 000 Infizierten und mehr als 7000 Toten, weltweit Platz sechs in der Corona-Statistik für das kleine südamerikanische Land. Die Bevölkerung wehrt sich auch dagegen, eingesperrt zu sein, nur mit polizeilicher Erlaubnis, nur zweimal die Woche und lediglich für bestimmte Besorgungen raus zu dürfen.
Vor allem für die Menschen in den „Poblaciones“, den Armenvierteln von Santiago de Chile ist diese Situation unerträglich und entlädt sich regelmäßig in massiven Protesten, die ebenso regelmäßig mit Tränengas und der militarisierten Polizei „Carabineros“niedergewalzt werden. Anfang des Monats und am Wochenende war es vor allem „Villa Francia“, wo die Bewohner den Ausgangssperren trotzten und mit Spruchbändern dem Staat vorwarfen, sie ihm Stich zu lassen. „No hay plata pal pueblo, no hay tranquilidad pal gobierno“. „Ohne Geld fürs Volk, gibt es keine Ruhe für die Regierung“, schrieben die Bewohner in dem Armenviertel auf ein Bettlaken und machten mit brennenden Barrikaden und den typischen „cacerolazos“, dem wütenden Schlagen auf Töpfe und Pfannen, auf ihre Situation aufmerksam.
Bei den Protesten Anfang Juli, die sich im ganzen Land Bahn brachen, wurden insgesamt 137 Menschen festgenommen, die meisten davon in der Hauptstadt Santiago. In Villa Francia fuhr ein gepanzertes Polizeifahrzeug eine schwangere Frau an.
Die Wut der Menschen in den Armenvierteln ist verständlich. Sie leben von der informellen Wirtschaft, arbeiten auf dem Bau, in Supermärkten oder als Wach- oder Hauspersonal. Falls sie noch einen Job haben. Seit Ausbruch der Corona-Krise in Chile Mitte März sind 1,5 Millionen Jobs verloren gegangen. Alleine im Mai schrumpfte die chilenische Wirtschaft um 15,3 Prozent. Aber während die Menschen in Zeiten der Pandemie auf Hilfe und Unterstützung von der
Regierung hoffen, schickt der rechte Präsident Piñera lieber die Sicherheitskräfte. In Corona-Zeiten reagiert die Staatsmacht genauso wie auch vor dem Gesundheitsnotstand, als monatelange Demonstrationen gegen das neoliberale Wirtschafts- und Sozialmodell Chile an die Grenze der Unregierbarkeit brachten. Repression statt Dialog und Empathie.
Dieses Mal aber sind es nicht Studenten, Schüler oder die Mittelklasse,
BERLIN/SÃO PAULO (epd) - Die Zahl der Corona-Infizierten steigt in Lateinamerika seit Wochen, ein Ende ist nicht in Sicht. Der Subkontinent hat sich zum neuen Epizentrum der Pandemie entwickelt. Fast täglich melden Länder wie Brasilien und Mexiko neue Negativrekorde bei Erkrankten und Toten. Auch in Peru, Kolumbien, Venezuela und Bolivien steigen die Zahlen stetig an.
Die Gründe für die dramatische Situation in der Region sind vielfältig und doch immer gleich. Vor allem die Armen sind auf das marode staatliche Gesundheitswesen angewiesen, sie wohnen oft beengt unter prekären hygienischen Bedingungen und können selbst bei einer Infektion nicht in Quarantäne gehen. Hinzu kommen die auf die Straßen gehen, es es ist der unterste Teil der Gesellschaft. Arbeiter, Arbeitslose, Obdachlose. Menschen, die am gefährdetsten sind, weil sie meist nur prekäre Jobs bekommen und diese in Zeiten wie diesen sofort wieder verlieren. 30 bis 40 Prozent der Chilenen leben nach Angaben des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) in dem einst als „Wirtschaftswunderland“gepriesenen südamerikanischen Staat in „extremer
Desinformation und Fakenews sowie ein in vielen Ländern weit verbreiteter Aberglaube. Aufklärungsmaßnahmen der Behörden, wenn es sie gibt, erreichen viel zu wenig Menschen.
Mehr als drei Millionen Menschen sind in der Region mit dem Covid-19-Virus offiziell infiziert. Wegen der geringen Testkapazität liegt die tatsächliche Zahl um ein Vielfaches höher. Rund 150 000 Menschen sind bereits gestorben. Lateinamerika ist in Bezug auf die Todesfälle die nach Europa am schwersten getroffene Region, noch vor den USA. Laut Prognosen der Weltgesundheitsorganisation könnten auf dem Subkontinent bis Oktober bis zu 438 000 Menschen an den Folgen des Virus sterben.
Die Regierungen reagieren sehr unterschiedlich – mit verheerenden
Unsicherheit, die an eine Notlage grenzt“.
Die Corona-Krise habe noch einmal eine andere Seite des chilenischen Modells zum Vorschein gebracht, sagt Jorge Saavedra, der zu sozialen Bewegungen forscht. „Während die Menschen vorher gegen den Missbrauch des Systems, also niedrige Löhne, hohe Lebenshaltungskosten und ein gewinnorientiertes Bildungssystem auf die Straße gingen,
Auswirkungen. Brasiliens rechtsextremer Präsident Jair Bolsonaro leugnet trotz mehr als 72 000 Corona-Toten in seinem Land immer noch die Gefährlichkeit des Virus. Auch in Mexiko spielte Präsident Andrés Manuel López Obrador lange die Pandemie herunter und lenkte erst sehr spät mit einheitlichen Schutzmaßnahmen ein. Inzwischen hat das Land mehr als 36 000 Tote zu beklagen und damit Italien überholt.
Peru verhängte bereits Mitte März, noch vor Deutschland und anderen europäischen Ländern, strenge Ausgangsbeschränkungen, die immer noch gelten. Trotzdem konnte das Virus nicht aufgehalten werden. Hauptgrund dafür ist wie in anderen lateinamerikanischen Ländern die große soziale Ungleichheit. So haben in Peru 40 Prozent der Haushalte keinen prangert ein anderer Teil der Gesellschaft jetzt die Vernachlässigung durch den Staat an“, betont der Professor an der britischen CambridgeUniversität gegenüber dieser Zeitung. „Die Menschen in Villa Francia und vergleichbaren Orten fühlen sich vom Staat vergessen.“
Und die aktuellen Proteste seien erst der Anfang, vermutet Saavedra. In dem Maße wie dem Virus mehr Menschen zum Opfer fielen, würden Kühlschrank. Die Menschen könnten keine Vorräte anlegen, sondern müssten regelmäßig auf den Markt gehen, erklärt der peruanische Ökonom Hugo Ñopo. Nach offiziellen Angaben waren beispielsweise 86 Prozent der Händler auf dem größten Gemüsemarkt der Hauptstadt Lima mit dem Virus infiziert. Ähnlich hoch waren die Infektionsraten auf anderen lokalen Märkten.
Statt konsequenter Aufklärung verstärkte Mexikos Präsident López Obrador den Aberglauben in seinem Land. Der beste Schutz gegen das Virus sei Ehrlichkeit, verkündet der Populist Mitte März. Dann fingerte er einen roten Stofffetzen mit dem Bild von Jesus aus seiner Hosentasche und zeigte es andächtig in die Kameras. Das Amulett sei sein Schutzschild vor einer Infektion. sie zunehmen. „Spätestens wenn die Pandemie vorbei ist, wird sich die Wut auf das System stärker entladen als zuvor.“Der „Soziale Protest 2.0“werde einen noch viel größeren Teil der Bevölkerung vereinen; diejenigen, die unter dem Missbrauch des Staates leiden und diejenigen, die Vernachlässigung durch eine unsensible Regierung beklagen. „Chile steht wie die Titanic vor dem Eisberg“, fürchtet Saavedra.
Brasiliens Präsident Bolsonaro hat sich selbst mit Covid-19 infiziert, was ihn aber nicht daran hindert, regelmäßig Werbung für das umstrittene und bei Covid-19 als wirkungslos geltende Malariamittel Hydroxychloroquin zu machen. „Wir kämpfen gegen das Corona-Virus und das Bolsonaro-Virus“, sagte São Paulos Gouverneur João Doria. Während die Regierung im Chaos versinkt, haben die Gouverneure im Alleingang Ausgangsbeschränkungen und Quarantänemaßnahmen umgesetzt.
Auch die Vereinten Nationen warnen vor einer Armutswelle auf dem Kontinent. Rund 45 Millionen Menschen könnten aus der Mittelklasse in die Armut rutschen, sagte UN-Generalsekretär Guterres. Damit würden mehr als 230 Millionen Menschen auf dem Kontinent in Armut leben.