Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Greise Giganten
Bäume werden in Deutschland nur selten sehr alt – Das wollen Experten mit einer Rettungsinitiative ändern – Eine Eibe im bayerischen Balderschwang zählt schon jetzt zu den Ausnahmen, sie könnte hierzulande das älteste Gewächs sein
BALDERSCHWANG - Ein Blitz war es womöglich, der der Alten Eibe in Balderschwang (Landkreis Oberallgäu) ein so langes Leben bescherte. Zumindest will es die Legende, dass einst ein Gewittereinschlag den Baum in der Mitte teilte, der seither zwar mit einer Wurzel, aber aus zwei Stammteilen wächst. Und das nun schon seit vielen Hundert Jahren. „Die Menschen haben früh erkannt, dass es sich um einen ganz besonderen Baum handelt und ihn deshalb stehen lassen“, vermutet Balderschwangs Bürgermeister Konrad Kienle, der das Naturdenkmal auf 1150 Metern Höhe stolz präsentiert. Und auf den Wahrheitsgehalt der Infotafel pocht, auf der steht: „2000-jährige Eibe“. Womit das Nadelgewächs wohl der älteste Baum in Deutschland wäre, was sich aber nicht so leicht nachweisen lässt. Eine Ausnahmeerscheinung ist die Eibe unweit der österreichischen Grenze aber so oder so, denn richtig alte Bäume, die seit dem Mittelalter ihre Wurzeln schlagen, stehen hierzulande kaum. Was nicht zuletzt an der deutschen Sorgfaltspflicht liegt.
Viel hätte nicht gefehlt, dann wäre auch die Eibe schon vor langer Zeit unter die Axt gekommen. Der Baum stand früher in einem Bergmischwald, der irgendwann Rodungen zum Opfer fiel. Die Eibe aber blieb stehen. Obwohl ihr Holz, stark und biegsam, einst sehr gefragt war für den Bau von Langbogen. Da gleichzeitig ihre Nadeln giftig für das Vieh sind, gibt es in unseren Breitengraden kaum noch welche. Jene in Balderschwang ragt immerhin sieben Meter in die Höhe und hat eine für ihr Alter erstaunlich dichte Benadelung. Was nicht unbedingt an dem Jägerzaun liegt, der sie schützend umgibt, sondern an dem Standort auf nährstoffreichem Boden in Hanglage mit kalkhaltigem Nagelfluhgestein und viel Feuchtigkeit – ist Balderschwang doch die regenreichste Gemeinde im Land. Im Winter versinkt der Ort nicht selten im Schnee, was der Eibe einen meterhohen Mantel in Weiß beschert.
Die Witterung ist mit den Jahrhunderten nicht spurlos an dem
Baum vorbeigezogen. Die beiden Stämme sind stellenweise vermoost und abgerieben, das Geäst knorrig, ineinander verschlungen und verknotet. Ein beeindruckendes Gehölz, an dem die Wanderer gerne stehen bleiben, sich mit dem grünen Greis fotografieren lassen, in der Hoffnung, ein Teil seiner Historie zu werden, den Geist eines unvorstellbar langen Lebens in einem digitalen Bild zu konservieren.
Der Deutsche pflegt eine besondere Beziehung zum Baum, der nicht nur Landschaften prägt und als Material für Möbel dient, als Sauerstoffproduzent und Schattenspender, sondern den Menschen als Symbol für das Leben gilt. Verewigt in Mythen und Märchen, in Kunst und Philosophie, in Religion und Brauchtum, zu allen Zeiten und in allen Kulturen. „Kein anderes Geschöpf“, schreibt der Kulturhistoriker Alexander Demandt, „ist mit dem Geschick der Menschheit so vielfältig, so eng verknüpft wie der Baum.“
Das mag mit seiner Statur und Standhaftigkeit zusammenhängen, auf die mancher Mensch ehrfurchtsvoll und bisweilen neidisch blicken mag. Aber auch mit seinem lebenslangen Wachstum. Während der Mensch zahlreiche und voneinander abhängige Organe besitzt, die alle funktionieren müssen, sind Bäume nach einem Modulsystem aufgebaut. Sie altern zwar als Ganzes, regenerieren sich jedoch fortwährend. Laubbäume treiben neue Blätter aus, Nadelbäume werfen regelmäßig ihre alten Nadeln ab, neues Gewebe lässt den Stamm dicker werden. Manche Baumarten können auf diese Weise enorme Lebensspannen erreichen, wie die Grannenkiefer in den Rocky Mountains, wo auch der älteste bekannte Baum der Welt steht, mit mehr als 5000 Jahren.
Hierzulande können Eichen älter als 1000 Jahre werden, sie wachsen langsam, sind aber widerstandsfähig, oder Linden, die sich erstaunlich gut von Schäden erholen. Wie alt diese Riesen tatsächlich sind, lässt sich mit absoluter Genauigkeit aber nur selten sagen, wie der Forstwissenschaftler Professor Andreas Roloff von der Technischen Universität Dresden der
„Schwäbischen Zeitung“erklärt. „Bäume werden im Inneren irgendwann faul und hohl“, sagt der Experte. „Das Kernholz ist dann tot.“Und damit auch die inneren Ringe, an denen sich die frühen Lebensjahre ablesen ließen. Für Altersschätzungen misst man den Umfang, zieht Vergleiche, nimmt eventuell Holzproben und hofft auf alte Aufzeichnungen. Für den Baum selbst spielt das fehlende Innenleben indes keine Rolle, denn für die Bruchsicherheit sorgt der äußere Mantel, genauso wie die äußeren Jahresringe den Transport von Nass und Nährstoffen übernehmen.
Die Eibe tut sich in dieser Hinsicht besonders hervor, sie ist „die pilzresistenteste Holzart“, sagt Roloff, was ihre Langlebigkeit erkläre. Die Alte Eibe in Balderschwang schätzt der Experte zwar nicht auf 2000 Jahre, aber immerhin auf 800 bis 1000 Jahre. Auf Englandreisen hat er immer wieder Eiben entdeckt im Alter von sogar 2000 und auch 2500 Jahren. Schon den Kelten galten diese Bäume als mythologische, strategische oder heilige Orte. Später bauten Christen ihre Kirchen um oder an alte Eiben. „So haben sie Kriege und Holznot überlebt, denn im Kirchhof kam keiner ran.“Auch in Deutschland gibt es reichlich Kirchen – aber nicht mal annähernd so viele Eiben, die sich auch anderswo nur selten finden, wie überhaupt alte Bäume rar gesät sind. Roloff meint, dass es in Deutschland keinen einzigen Baum gibt, der älter als 1000 Jahre ist. Im Wald sowieso nicht, wo meist die Bewirtschaftung nur eine begrenzte Lebensdauer zulässt. Aber auch auf dem Land oder in den Städten zeigt sich ein ganz anderes Bild als etwa in England. „In England wird die Verkehrssicherheitspflicht anders gehandhabt als bei uns.“
Die besagt hierzulande, dass ein Grundstücksbesitzer einmal im Jahr seine Bäume auf ihre Gefahr für die Umwelt kontrollieren muss. „In Deutschland wird diese Regel ganz weit getrieben“, sagt Roloff. Anders: Der Deutsche geht gerne auf Nummer sicher, und kosten soll es dann auch nichts. „Billig heißt jedoch schnell, und schnell bedeutet große Schnitte“, so der Forstwissenschaftler. Daher werden bei ganz alten Bäumen gerne die dicksten und größten Äste abgesägt. „Über die riesigen Schnittflächen dringen aber sofort Pilze ein und fangen an, den Baum von oben abzufressen.“In der Folge dringen die Pilze in die nächst dünneren Äste ein, die ebenfalls faulen. Ein Teufelskreis, dem die allermeisten Bäume zum Opfer fallen würden. „Es ist ein tragischer Zustand mit den alten Bäumen in Deutschland“, klagt Roloff.
Nun will der Wissenschaftler nicht in Abrede stellen, dass man gerade an Bahnstrecken und Schnellstraßen der Sicherheit Genüge tragen muss. Auch Siegfried Fink, Professor für Forstbotanik an der Universität Freiburg, warnt vor übertriebener Romantisierung: „Bäume sind dynamische Dinge, auch wenn sie eine längere Lebensdauer haben als wir“, sagt er der „Schwäbischen Zeitung“. Er habe sich beispielsweise sehr darüber aufgeregt, dass im Rahmen von Stuttgart 21 alte Platanen verpflanzt wurden. „Dadurch hat man praktisch Dauerpatienten geschaffen, anstatt junge Bäume zu pflanzen, die die nächsten 100 Jahre halten“, so Fink, der betont: „Mir ist ein junger, dynamischer Baum lieber, als ein alter kranker, der anfängt seine Äste auf die Leute zu werfen.“
Auch sein Kollege Andreas Roloff plädiert dafür, „einen Baum auch mal in Würde sterben zu lassen“, wünscht sich insgesamt aber einen behutsameren Umgang mit dem Alter, einen sorgsamen Schnitt und eine jährliche Kontrolle. Am Ende müsste nicht immer der Kahlschlag stehen, trotzdem könne Gesetz und Sorgfaltspflicht Rechnung getragen werden. „Die allermeisten Menschen wollen ja nicht, dass wir alles baumfrei machen“, ist er überzeugt und hofft auf „ein Stück mehr Achtung vor einer Kreatur, die 800 Jahre und älter ist“.
Ein Bewusstsein für diese Wertschätzung will die Deutsche Dendrologische Gesellschaft mit der Initiative Nationalerbe Baum schaffen, die unter der Leitung von Roloff im vergangenen Jahr an den Start gegangen ist und die von der Eva-Mayr-Stihl-Stiftung aus Waiblingen (Rems-Murr-Kreis) finanziert wird. Die Gelder fließen in Pflege und Bewahrung von Bäumen, die mindestens 400 Jahre alt sein sollten und auf Antrag als Naturdenkmäler ausgewiesen werden. „Die Zeit ist reif, solche Uralt-Bäume zu schützen, um ihnen damit ein Altern in Würde zu ermöglichen“, sagt Roloff. Drei Exemplare wurden schon ausgezeichnet, demnächst folgt die „1000-jährige“Stieleiche in Nagel bei Küps (Frankenwald, Landkreis Kronach), insgesamt 100 sollen es einmal werden. „Die Alte Eibe in Balderschwang könnte irgendwann dazugehören“, sagt der Forstbotaniker, der sie zu den drei ältesten Bäumen in Deutschland zählt.
Ein besonderes Geschöpf ist dieser Baum allemal, der fasziniert und die Fantasie anregt, der dazu einlädt, über das eigene Leben und seine Endlichkeit zu reflektieren. Das tut auch Bürgermeister Kienle, wenn er dort oben über dem Tal Eheschließungen vornimmt und in seinen Traureden die „Zweisamkeit mit einer Wurzel“beschwört, die uralte Verbindung zweier Stämme. Dass auf dem Schild „2000-jährige Eibe“steht, mag da eine verzeihliche Ungenauigkeit sein.
Mehr Informationen unter www.nationalerbebaeume.de