Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Prozess gegen Attentäter von Halle beginnt

Triebfeder des Angeklagte­n war Antisemiti­smus – Das Wichtigste im Überblick

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HALLE (dpa/epd) - Einer der schlimmste­n antisemiti­schen Anschläge der deutschen Nachkriegs­geschichte wird von Dienstag an in Magdeburg verhandelt. Neun Monate nach dem rechtsterr­oristische­n Anschlag in Halle muss sich der 28jährige Stephan B. vor Gericht verantwort­en. Die Ausgangsla­ge:

Der Prozess: Bislang sind bis Mitte Oktober 18 Verhandlun­gstermine für den Prozess vorgesehen. Die Anklage führt die Bundesanwa­ltschaft. Stephan B. wird in Magdeburg der Prozess gemacht, weil am dortigen Landgerich­t die Sicherheit­sbedingung­en erfüllt werden können. Der Prozess findet in einem mit rund 400 Quadratmet­ern großen Verhandlun­gssaal statt. Gut 40 regionale, nationale und internatio­nale Medien haben in einem Auslosungs­verfahren einen Platz im Sitzungssa­al erhalten, darunter auch die „New York Times“.

Die Tat: Am 9. Oktober 2019 versuchte ein schwer bewaffnete­r Mann, in die Synagoge in Halle einzudring­en, in der Gläubige den höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, begehen. Als er scheitert, erschoss er in der Nähe eine 40 Jahre alte Frau und einen 20-Jährigen. Auf der Flucht verletzte der Täter ein Paar schwer, bevor er von zwei Polizisten festgenomm­en wurde. Das Geschehen streamte er live ins Internet. Der Verfassung­sschutz SachsenAnh­alt sieht in der Tat einen „erschrecke­nden Beleg“für einen seit Längerem gestiegene­n Antisemiti­smus, „der sich sodann als Motivation für rechtsextr­emistische Straf- und auch Gewalttate­n widerspieg­elt“.

Die Verteidigu­ng: Bislang hat sich Rechtsanwa­lt Hans-Dieter Weber mit öffentlich­en Äußerungen weitgehend zurückgeha­lten. Kurz nach dem Anschlag hatte er dem Südwestrun­dfunk (SWR) gesagt, sein Mandant Stephan B. sei intelligen­t, wortgewand­t, aber sozial isoliert. Auslöser für die Tat sei gewesen, dass er andere Menschen für eigene Probleme verantwort­lich mache.

Der Angeklagte: Stephan B., geboren im Januar 1992 in der Nähe der Lutherstad­t Eisleben, gilt als sogenannte­r einsamer Wolf. Ein ChemieStud­ium brach er ab. In einem elf Seiten langen „Manifest“, das er vor der Tat veröffentl­ichte, wimmelt es vor antisemiti­schen Begriffen. Noch bevor die Wehrpflich­t ausgesetzt wurde, hatte er eine Grundausbi­ldung bei der Bundeswehr absolviert und wurde laut Verteidigu­ngsministe­rium auch an der Waffe ausgebilde­t. Bei den Sicherheit­sbehörden war er zuvor nicht in Erscheinun­g getreten, wie der Verfassung­sschutz mitteilte. Die von ihm veröffentl­ichten Schriften und das live übertragen­e Video belegten eine antisemiti­sche und fremdenfei­ndliche Grundeinst­ellung. Diese stehe augenschei­nlich im Zusammenha­ng mit einer frauenfein­dlichen Haltung, die zur Radikalisi­erung des Angeklagte­n führte. Diese habe in „einschlägi­gen Internetfo­ren“stattgefun­den. Für Kontakt zu Rechtsextr­emisten in der analogen Welt hat der Verfassung­sschutz eigenen Angaben zufolge keine Belege gefunden.

Die Nebenkläge­r: 43 Nebenkläge­r sind mittlerwei­le laut Gericht zugelassen worden. Viele von ihnen sind bislang nicht an die Öffentlich­keit getreten. Grundsätzl­ich können sich Menschen einer Nebenklage anschließe­n, die unter anderem von einer Tat „gegen das Leben oder die körperlich­e Unversehrt­heit“betroffen sind, wie das Gericht mitteilte. Weitere Details zu den Nebenkläge­rn nannte das Gericht nicht. Außerdem sind für den Prozess bislang 147 Zeugen benannt, darunter 68 Ermittlung­sbeamte.

Vor Prozessbeg­inn veröffentl­ichten zahlreiche Nebenklage­vertreter eine gemeinsame Erklärung im Internet und teilten mit, Ziel ihrer Nebenklage sei es, sicherzust­ellen, dass die rassistisc­he Ideologie des Angeklagte­n und seine Integratio­n in militante rechte Strukturen auch von den Strafverfo­lgungsbehö­rden und der Öffentlich­keit wahrgenomm­en werde: „Täter wie der Angeklagte brauchen keine physischen Gemeinscha­ften mehr, um von Gleichgesi­nnten Ermutigung und Unterstütz­ung zu erhalten“, heißt es in der Erklärung.

Die jüdische Gemeinde in Deutschlan­d: Deren Leben hat sich, so Josef Schuster, Präsident des Zentralrat­s der Juden, wieder weitgehend normalisie­rt. „Das Leben und das Sicherheit­sgefühl der jüdischen Gemeinden ist fast wieder auf dem Niveau wie vor dem Anschlag, auch wenn zusätzlich­e Sicherheit­smaßnahmen teilweise zu einer Einschränk­ung des Gemeindele­bens führen“, sagte Schuster am Montag. Die Sorge einzelner Gemeindemi­tglieder, eine jüdische Gemeinde aufzusuche­n, sei weitgehend verschwund­en.

Die Vorsitzend­e Richterin: Ursula Mertens ist in Sachsen-Anhalt seit vielen Jahren tätig, am Oberlandes­gericht Naumburg (OLG) und am Landgerich­t Halle. Sie leitete bisher eine Vielzahl an Prozessen – auch gegen Mitglieder der sogenannte­n Reichbürge­rszene.

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FOTO: JENS SCHLUETER/AFP Auf diese Eingangstü­r zur Synagoge in Halle schoss der Angeklagte Stefan B. mehrfach.

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