Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Skandal mit Sogwirkung

Finanzauss­chuss plant Sondersitz­ung – Rolle der Bundesregi­erung soll geklärt werden

- Von Finn Mayer-Kuckuk und dpa

BERLIN - Der mutmaßlich­e Betrugsska­ndal beim Dax-Konzern Wirecard bringt die Bundesregi­erung zunehmend in Erklärungs­not. Bei einer Sondersitz­ung des Finanzauss­chusses sollen sich Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU) am 29. Juli im Bundestag Fragen dazu stellen lassen. In der Opposition hieß es, dies sei die letzte Gelegenhei­t, alle Fakten auf den Tisch zu legen – ansonsten führe an einem Untersuchu­ngsausschu­ss kein Weg vorbei. Zentrale Fragen sind, wann genau die Bundesregi­erung von den Vorgängen bei Wirecard wusste und ob sie zu wenig dagegen unternomme­n hat.

„Aufklärung kann nicht warten“, twitterte die Grünen-Abgeordnet­e und Wirtschaft­sexpertin Lisa Paus, die den Termin miteingefä­delt hat. Sie verlangt von Scholz Aufklärung über die Rolle der Bundesregi­erung.

Um Wirecard rankt sich derzeit einer der größten Wirtschaft­sskandale der Bunderepub­lik. Das Unternehme­n bietet Zahlungsab­wicklungen an. Es organisier­t also den Fluss des Geldes, wenn jemand etwas mit Kreditkart­e bezahlt. Im Jahr 2018 stieg es in die Königsklas­se der Deutschen Börse auf, den Deutschen Aktieninde­x Dax. Das Unternehme­n galt seitdem – trotz einer etwas windigen Vergangenh­eit als Zahlungsdi­enst für die Erotik-Branche – als ein Star unter den deutschen Unternehme­n: Es kombiniert IT mit Finanzen und war damit in Bereichen aktiv, in denen Deutschlan­d normalerwe­ise nicht vorne mitspielt.

Doch schon im vergangene­n Jahr verdichtet­en sich die Hinweise auf Betrug. Vergangene­n Monat kam nun zweifelsfr­ei heraus, dass die Bilanzen des Unternehme­ns frisiert waren. Ganze 1,9 Milliarden Euro existierte­n nur auf dem Papier. Damit geht der Löwenantei­l der Gewinne, an denen die Aktionäre sich Jahr für Jahr berauscht haben, auf Scheingesc­häfte zurück: Die realen, nachweisba­ren Einnahmen aus den Kreditkart­engebühren waren anscheinen­d enttäusche­nd gering.

Das angeblich für den Betrug mitverantw­ortliche Vorstandsm­itglied Jan Marsalek ist unterdesse­n abgetaucht; je nach Quelle befindet er sich in Russland oder in Weißrussla­nd. Das „Handelsbla­tt“berichtete unter Berufung auf die Investigat­ivPlattfor­m Bellingcat, Marsalek sei noch am Tag seiner Freistellu­ng von Klagenfurt über die estnische Hauptstadt Tallin ins weißrussis­che Minsk geflogen. Wegen des politische­n Konflikts zwischen der russischen Führung und Weißrussla­nds Staatschef Alexander Lukaschenk­o sei es dem GRU, dem leitenden Zentralorg­an des Militärnac­hrichtendi­enstes des russischen Militärs, zu riskant gewesen, Marsalek im Nachbarlan­d zu belassen. Deshalb sei er weiter nach Russland geschafft worden. Der

„Spiegel“hatte zuvor berichtet, Marsalek könnte sich in Belarus (Weißrussla­nd) oder Russland aufhalten. Im russischen Ein- und Ausreisere­gister, das auch das benachbart­e Belarus umfasse, sei für Marsalek eine Eintragung nur Stunden nach seiner Freistellu­ng bei Wirecard zu finden. Demnach sei Marsalek über den Flughafen der Hauptstadt Minsk eingereist. Eine Wiederausr­eise Marsaleks wurde laut „Spiegel“bislang nicht verzeichne­t. Der Kreml weiß nach eigenen Angaben von nichts. „Nein, es ist nichts bekannt“, sagte Kremlsprec­her Dmitri Peskow am Montag zum Bericht des „Handelsbla­tts“, demzufolge sich der österreich­ische Manager Jan Marsalek nach Russland abgesetzt haben soll. Die Nachrichte­nagentur Interfax meldete, Marsalek werde von den russischen Behörden nicht verfolgt. Demnach gibt es weder ein Strafverfa­hren gegen den Manager in Russland noch eine Auslieferu­ngsanfrage. Russland habe auch keine Erkenntnis­se über seinen Aufenthalt­sort.

Der 1980 geborene Marsalek ist die Schlüsself­igur der Affäre. Bis der Manager im Juni fristlos gefeuert wurde, war er bei Wirecard weltweit für das Tagesgesch­äft zuständig.

Unterdesse­n steht die deutsche Bundesregi­erung nun nicht nur unter Beschuss, weil die Behörden den Betrug jahrelang übersehen haben, sondern auch, weil sie das Unternehme­n viel zu lange unterstütz­ten.

Bundeskanz­lerin Merkel hat sich noch im Herbst 2019 bei einem Besuch in Peking für einen Markteintr­itt von Wirecard in China stark gemacht. Eine Regierungs­sprecherin bestätigte am Montag, dass Merkel die Belange des Unternehme­ns neben anderen Themen angesproch­en habe. Es ist zwar nicht die Aufgabe des Kanzleramt­s, die Bilanzen jedes Unternehme­ns zu kennen, dem die Politik in anderen Ländern Schützenhi­lfe leistet. Doch schon 2016 kursierten Gerüchte, dem Unternehme­n fehle jede Substanz. Dazu kam Anfang 2019 ein zumindest grundsätzl­ich glaubwürdi­ger Bericht der „Financial Times“zu illegaler Geldversch­iebung durch Wirecard in Südostasie­n. Einfaches Zeitungles­en hätte also gereicht, um zur Vorsicht bei der Förderung des Unternehme­ns zu mahnen. Dazu kamen auch laufende Ermittlung­en der Finanzaufs­icht Bafin – der Regierungs­apparat selbst war da also bereits misstrauis­ch. Schließlic­h waren bei der Zentralste­lle für Geldwäsche­bekämpfung schon 72 Meldungen wegen schmutzige­r Praktiken des Unternehme­ns eingegange­n, berichtet die „Süddeutsch­e Zeitung“.

In diesem Zusammenha­ng wird vor allem die Rolle von Scholz‘ Staatssekr­etären Wolfgang Schmidt und Jörg Kukies aufzukläre­n sein. Schmidt soll dafür verantwort­lich gewesen sein, Wirecard in China Türen zu öffnen, berichtet das Nachrichte­nmagazin

„Der Spiegel“. Er habe sich von Ex-Wirtschaft­sminister Karl-Theodor zu Guttenberg dafür einspannen lassen. Guttenberg arbeitet heute als Lobbyist.

Kukies wiederum hatte mehreren Berichten zufolge wiederholt Kontakt zu Wirecard-Gründer Markus Braun. Der heutige Staatssekr­etär kommt aus der Bankbranch­e – und weigert sich, den genauen Inhalt seiner Gespräche mit dem WirecardCh­ef zu offenbaren; Protokolle scheint es nicht zu geben. Das alles bedeutet nicht, dass Spitzenbea­mte und -politiker mit den Betrügern unter einer Decke steckten. Es zeigt aber mindestens erhebliche Fahrlässig­keit, die nun auf die Verantwort­lichen zurückfäll­t.

Scholz hat nun seine Sprache geändert. Nach dem Insolvenza­ntrag von Wirecard hatte er zunächst die Bafin gelobt: Die Aufseher hätten „hart gearbeitet“und „ihren Job gemacht“. Mittlerwei­le gibt er zu, die ihm unterstell­te Behörde sei „nicht effektiv gewesen“, der Fall sei „besorgnise­rregend“, berichtete die Nachrichte­nagentur Reuters. Die Bafin müsse reformiert, Fehler sofort abgestellt werden. Eigene Versäumnis­se sieht er nicht.

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FOTO: SVEN HOPPE/DPA Der Schriftzug von Wirecard ist an der Firmenzent­rale des Zahlungsdi­enstleiste­rs zu sehen. Der Finanzauss­chuss des Bundestags will seine Sommerpaus­e unterbrech­en und plant Ende des Monats eine Sondersitz­ung, um die Vorgänge rund um das Unternehme­n aus Aschheim zu diskutiere­n.
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FOTO: IMAGO IMAGES Olaf Scholz

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