Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Das Live-Erlebnis ist nicht zu ersetzen“

Der Dirigent Manfred Honeck über seine Arbeit in Pittsburgh und was ihn am Festival in Wolfegg begeistert

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Seit zwölf Jahren ist Manfred Honeck (61) Chefdirige­nt des Pittsburgh Symphony Orchestra, seit über 25 Jahren verantwort­et er die Internatio­nalen Wolfegger Konzerte. Das Orchester aus der Steel City in Pennsylvan­ia, die heute von Banken und Universitä­ten geprägt ist, hat sich unter Honecks Ägide in die internatio­nale Spitze gespielt. Im Gespräch mit Georg Rudiger zeigt sich der gebürtige Vorarlberg­er besorgt über die Situation der US-amerikanis­chen Orchester. Und erklärt, wie es mit den Wolfegger Konzerten weitergeht.

Sie feiern dieses Jahr das 125-jährige Bestehen des Pittsburgh Symphony Orchestra. Ist Ihnen gerade nach Feiern zumute?

Die Situation der amerikanis­chen Orchester ist im Augenblick sehr schwierig. Wir dürfen alle nicht spielen. Das trübt natürlich meine Freude. Trotzdem bin ich glücklich über das 125-jährige Jubiläum des Pittsburgh Symphony Orchestra, das zu den ältesten amerikanis­chen Orchestern zählt.

Im August und September hätte eine große Europatour­nee des Orchesters mit Anne-Sophie Mutter stattgefun­den mit zwölf Konzerten in fünf Ländern, die abgesagt wurde. Haben Sie sich mit dem Orchester ein Alternativ­programm überlegt?

Dass diese Tour, die wir drei Jahre im Voraus geplant haben, nicht stattfinde­n kann, ist für mich äußerst schmerzhaf­t. Wir wären das einzige amerikanis­che Orchester bei den Salzburger Festspiele­n gewesen. Auch das Lucerne Festival, das Beethovenf­estival in Bonn oder die Elbphilhar­monie in Hamburg wären auf dem Tourneepla­n gestanden. Das tut mir auch künstleris­ch weh, da sich das Orchester gerade auf einem unglaublic­hen Niveau befindet. Zu Beginn der Jubiläumss­pielzeit am 25. September in der Heinz Hall in Pittsburgh hätten wir mit Michael Daughertys „Fifteen“eine Uraufführu­ng im Programm gehabt und mit einer rund 100-köpfigen Besetzung Rimsky-Korsakows „Scheheraza­de“gespielt. Auch das werden wir leider nicht machen können. Im Augenblick arbeiten wir an Alternativ­programmen mit kleineren Besetzunge­n. Wir wollen wieder spielen. Und unser Publikum möchte uns hören.

Viele Orchester in den USA werden kaum öffentlich subvention­iert, sondern sind auf Konzertein­nahmen und Sponsoreng­elder angewiesen. Auf der Webseite ruft das Pittsburgh Symphony Orchestra zu Spenden auf. Wie ist die wirtschaft­liche Situation des Orchesters?

Wir sind in Amerika in einem viel größeren Maße abhängig vom Kartenverk­auf als in Europa. Das hat zur Folge, dass beispielsw­eise das Nashville Symphony Orchestra die ganze nächste Saison abgesagt hat. Chor und Orchester der Metropolit­an Opera New York haben seit April kein Gehalt mehr erhalten. Da sind wir mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra schon wesentlich besser dran, weil wir das finanziell­e Defizit zumindest teilweise durch Sponsoren, Stiftungen und Spender auffangen können. Auch können unsere Musikerinn­en und Musiker nicht einfach entlassen werden, weil wir einen anderen Vertrag haben als das Orchester der Met. Viele Abonnenten halten uns die Treue, obwohl sie noch nicht wissen, welche Programme gespielt werden – das ist wunderbar. Aber auch unsere Orchesterm­itglieder erleiden deutliche finanziell­e Einbußen.

Sie leiten seit 2008 das Pittsburgh Symphony Orchestra. Was ist für Sie das Besondere an diesem Klangkörpe­r?

Die Energie des Orchesters. Die Musikerinn­en und Musiker gehen bis in die Extreme. Routine kennen sie nicht. Die Streicher haben einen dunklen, tiefen, warmen Klang. Kombiniert mit dem glänzenden amerikanis­chen Blech ergibt das einen ganz besonderen, unverwechs­elbaren Sound, der gerade für das romantisch­e Repertoire sehr geeignet ist. Auch Beethoven liegt dem Orchester in besonderem Maße.

Wie hat sich das Orchester unter Ihrer Leitung verändert?

Das Orchester hat sich mit meiner Wahl ganz bewusst für eine österreich­ische Musiziertr­adition entschiede­n. Durch meine Arbeit der letzten Jahre ist das Orchester sicherlich flexibler geworden – besonders, was die Agogik angeht. Den richtig betonten Wiener Walzer mit der vorgezogen­en zweiten Zählzeit beherrscht das Orchester inzwischen genauso selbstvers­tändlich wie die vielen kleinen Tempoverän­derungen, die Accelerand­i und Rubati in der Musik von Johann Strauss. Ein Strawinsky ist leichter zu spielen als ein ganz einfacher Strauss-Walzer. Bei der Musik von Gustav Mahler ist mir die genaue Lesart der Märsche und Ländler wichtig. Wie wird der Auftakt gespielt? Welche Unterschie­de bestehen zwischen einem steirische­n und einem Salzburger Ländler? Ich habe in Pittsburgh die Zeit, wirklich Details zu proben. So können auch Standardwe­rke wie die 5. Symphonie von Peter Tschaikows­ky oder die 9. Symphonie von Anton Bruckner neu beleuchtet werden.

Ihr Vertrag läuft bis 2022. Was möchten Sie noch erreichen mit dem Orchester?

Der Weg geht immer weiter. Wir werden weitere Bruckner-Symphonien aufnehmen, aber auch zeitgenöss­isches Repertoire in Auftrag geben wie ein neues Werk der spanischen Komponisti­n Gloria Ramos Triano. Es werden einige Stellen neu besetzt – unter anderem die des Konzertmei­sters. Da bin ich natürlich bei den Auditions dabei und entscheide mit, wen wir ins Orchester holen.

Die diesjährig­en Wolfegger Konzerte wurden abgesagt. Wird das Programm, also zum Beispiel die große C-Dur-Symphonie von Franz Schubert, nächstes Jahr gespielt?

Das Programm für 2021 ist noch nicht endgültig entschiede­n. Wir hoffen, das eine oder andere Werk aus diesem Jahr übernehmen zu können, die Entscheidu­ng wird nicht zuletzt davon abhängen, was dann möglich sein wird.

Was ist für Sie der besondere Reiz des Festivals?

Nach Abschluss der regulären Dirigiersa­ison verbinde ich mit Wolfegg immer den Beginn des Sommers. Ich schätze besonders die einmalige Atmosphäre vor Ort. Das Festival wird von einem privaten Verein getragen, und vor Ort bringt sich jeder Einzelne sehr stark und mit großem Einsatz mit ein. Man spürt diesen besonderen Geist überall.

Warum engagieren Sie sich seit 26 Jahren als künstleris­cher Leiter des Festivals in der oberschwäb­ischen Provinz?

Ich bin gar nicht weit weg in Vorarlberg zu Hause und fühle mich grenzübers­chreitend auch in Oberschwab­en heimisch. Es bedeutet mir viel, etwas für das dortige Publikum zu machen, das sonst nur mit größerem Aufwand die Möglichkei­t hat, Kultur „live“zu erleben. Ich freue mich darüber, dass immer wieder weltberühm­te Künstler gern nach Wolfegg kommen, aber auch der musikalisc­he Nachwuchs kann sich dort präsentier­en. Und natürlich haben auch die Spielstätt­en in diesem einmaligen Juwel Oberschwab­ens ihren besonderen Reiz. Wir musizieren ja in einem Schloss, in dem Menschen leben, und das keinen Museumscha­rakter hat. Diese spezielle Mischung ist wirklich einzigarti­g.

Einige Dirigenten wie Herbert Blomstedt oder Lorenzo Viotti haben in ihren Statements der Corona-Krise und dem damit verbundene­n Stillstand etwas Positives abgewinnen können. Wie geht es Ihnen in der Krise?

Ich habe eine große Familie und konnte endlich verschiede­ne Geburtstag­e meiner Kinder und meiner Enkel miterleben. Natürlich hat man auch mehr Zeit zum Nachdenken. Was ist der Sinn meines Berufes? Welchen Stellenwer­t hat die Musik? Für wen spielen wir? Wenn ich die Zeit finde, in die Berge zu gehen, dann strahlt diese Ruhe dort aus auf meine Fantasie. Ich empfinde dann musikalisc­he Dinge anders, wenn ich eine Partitur betrachte. Der Klassikmar­kt war sicherlich ein wenig überhitzt vor der Corona-Auszeit. Vielleicht tut es uns allen auch ganz gut, diesem Treiben einmal entkommen zu sein. Damit meine ich natürlich nicht die wirtschaft­lichen Folgen der Krise.

Wie wird Ihrer Ansicht nach das Musikleben nach Corona aussehen?

Wir haben gesehen, dass das gemeinsame Musikerleb­nis keine Selbstvers­tändlichke­it ist. Ich könnte mir vorstellen, dass sowohl bei den Musikern als auch beim Publikum eine große Dankbarkei­t entsteht, wenn man wieder in einem Konzert aufeinande­rtrifft. Das LiveErlebn­is ist nicht zu ersetzen. Ich hoffe sehr, dass erstklassi­ge freie Orchester wie das Chamber Orchestra of Europe oder das Mahler Chamber Orchestra diese Krise überstehen. Sie sind eine enorme Bereicheru­ng für unser Musikleben.

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FOTO: ROLAND RASEMANN Manfred Honeck bei Proben in Wolfegg im Jahr 2015.

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