Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Nur kriminelle Luftbuchun­gen

Bilanzfäls­chung bei Wirecard seit 2015 – Ex-Chef wieder in Haft – Druck auf Merkel wächst

- Von Carsten Hoefer, Andreas Hoenig und Christof Rührmair

MÜNCHEN/BERLIN (dpa) - Der Betrugsska­ndal beim Dax-Konzern Wirecard erreicht eine neue Dimension: Die Münchner Staatsanwa­ltschaft geht mittlerwei­le von „gewerbsmäß­igen Bandenbetr­ug“seit 2015 aus, wie die Ermittlung­sbehörde mitteilte, mehr als drei Milliarden Euro könnten verloren sein. Ex-Vorstandsc­hef Markus Braun wurde zum zweiten Mal innerhalb eines Monats in Untersuchu­ngshaft genommen – und anders als Ende Juni auch nicht mehr gegen Millionenk­aution auf freien Fuß gesetzt. Das teilte die Münchner Staatsanwa­ltschaft am Mittwoch mit.

Ebenfalls mit Haftbefehl hinter Gittern sitzen nun der frühere Finanzvors­tand von Wirecard, Burkhard Ley, und der ehemalige Chef der Buchhaltun­g. Derweil gerät die Bundesregi­erung politisch weiter unter Druck, weil Kanzlerin Angela Merkel (CDU) noch 2019 in China bei der Pekinger Führung für den geplanten Markteintr­itt des Konzerns in der Volksrepub­lik warb.

Die Vorwürfe der Staatsanwa­ltschaft laufen darauf hinaus, dass der Dax-Konzern womöglich seit 2015 von einer kriminelle­n Bande geführt wurde – ein in der Geschichte der deutschen Börsen-Oberliga noch nicht da gewesener Vorgang. „Banken in Deutschlan­d und Japan sowie sonstige Investoren stellten, durch die falschen Jahresabsc­hlüsse getäuscht, Gelder in Höhe von rund 3,2 Milliarden Euro bereit, die aufgrund der Insolvenz der Wirecard AG höchstwahr­scheinlich verloren sind“, hieß es in der Mitteilung der Ermittler.

Sollte sich das bestätigen, könnte Wirecard zum größten Betrugsfal­l der deutschen Nachkriegs­geschichte werden. Bisheriger Spitzenrei­ter ist das badische Unternehme­n Flowtex, das in den 1990er-Jahren mit dem Verkauf nicht existenter Spezialboh­rmaschinen einen Schaden von gut zwei Milliarden Euro angerichte­t hatte.

Die im Münchner Vorort Aschheim ansässige Wirecard AG hatte vor ihrem Insolvenza­ntrag eingeräumt, dass 1,9 Milliarden Euro nicht auffindbar waren, die auf philippini­schen Treuhandko­nten verbucht sein sollten.

„In Wirklichke­it war den Beschuldig­ten spätestens seit Ende 2015 klar, dass der Wirecard Konzern mit den tatsächlic­hen Geschäften insgesamt Verluste erzielte“, schrieben die Ermittler in ihrer Mitteilung. Dies bedeutet auch, dass Wirecard niemals in den Dax hätte aufrücken dürfen. Zeitweilig war das Unternehme­n an der Frankfurte­r Börse mehr als 20 Milliarden Euro wert – offenbar auf Basis von Erfindunge­n.

„Die sehr intensiven Ermittlung­en der Staatsanwa­ltschaft München I haben ergeben, dass der den Beschuldig­ten zur Last gelegte Sachverhal­t noch einmal ganz erheblich erweitert werden muss“, sagte Oberstaats­anwältin Anne Leiding. „Wir haben ganz umfassende Aussagen eines Kronzeugen.“Demnach sollen die beschuldig­ten Manager 2015 beschlosse­n haben, die Wirecard-Bilanz durch vorgetäusc­hte Einnahmen „aufzublähe­n“– also nicht vorhandene Scheinumsä­tze und -gewinne zu melden.

Soweit bekannt, erdichtete die Wirecard-Chefetage dafür Geschäfte mit Subunterne­hmern in Dubai und Südostasie­n, die für das deutsche Unternehme­n angeblich Kreditkart­enzahlunge­n in Südostasie­n und im Mittleren Osten abwickelte­n. Schon vorher in Untersuchu­ngshaft saß der frühere Chef der WirecardTo­chtergesel­lschaft in Dubai, der Cardsystem­s Middle East.

Dieses Unternehme­n steuerte laut Bilanz der Muttergese­llschaft Wirecard AG 2018 mit 237 Millionen Euro einen großen Anteil der Gewinne bei – Gewinne, die nicht existierte­n. Wer der Kronzeuge ist, enthüllten die Ermittler nicht, doch hatte der ehemalige Cardsystem­s-Geschäftsf­ührer seine Kooperatio­n zugesagt. Nach wie vor auf der Flucht ist der frühere Vertriebsv­orstand Jan Marsalek, wie Braun österreich­ischer Staatsbürg­er.

Für Ex-Vorstandsc­hef Braun kam die neuerliche Inhaftieru­ng wahrschein­lich überrasche­nd: Die Ermittler setzten ihn am Mittwochmo­rgen fest, als er sich wie vorgesehen bei der Polizei in München meldete. Alle drei hätten sich nicht gestellt, berichtete Leiding.

Auch für die Bundesregi­erung wird der Skandal immer ungemütlic­her. Kanzlerin Merkel warb 2019 in China noch für Wirecard, als bei der Finanzaufs­icht Bafin die Vorwürfe gegen das Unternehme­n zum Teil bekannt waren. Als Fürspreche­r von Wirecard betätigte sich auch der ExGeheimdi­enstkoordi­nator der Regierungs­zentrale. Ein Untersuchu­ngsausschu­ss des Bundestags rückt näher. Innerhalb der Koalition ist ein Streit über Verantwort­lichkeiten ausgebroch­en.

Das Bundeskanz­leramt bestätigte, dass es seit Ende 2018 mehrmals Kontakt mit Wirecard-Managern und Beratern gab. Unter anderem wandte sich der von 2014 bis zum Frühjahr 2018 für die Geheimdien­ste zuständige Ex-Staatssekr­etär KlausDiete­r Fritsche an das Kanzleramt und bat um einen Gesprächst­ermin für die Wirecard AG. Zur Vorbereitu­ng bat das Kanzleramt beim Finanzmini­sterium um Informatio­nen zum Unternehme­n. Das Finanzress­ort schickte dann „öffentlich verfügbare Informatio­nen“ans Kanzleramt – darunter Antworten der Regierung auf Anfragen der Opposition, bei denen es um Vorwürfe gegen Wirecard ging, etwa zu Unregelmäß­igkeiten bei der Rechnungsl­egung.

Auf ihrer China-Reise im September 2019 sprach Merkel bei der Pekinger Führung das Thema der geplanten Übernahme des chinesisch­en Unternehme­ns AllScore Financial durch Wirecard an. Merkel habe zum Zeitpunkt der Reise „keine Kenntnis von möglichen schwerwieg­enden Unregelmäß­igkeiten bei Wirecard“gehabt, erklärte der Sprecher. Dass deutsche Spitzenpol­itiker einschließ­lich Kanzlerin auf Auslandsre­isen für deutsche Firmen werben, ist Usus.

Laut Kanzleramt hat Ex-Vorstandsc­hef Braun auch bei diesen Kontakten in die deutsche Regierungs­zentrale noch die Fälschungs­vorwürfe bestritten. Linke-Fraktionsv­ize Fabio De Masi sagte zu den neuen Details: „Die Affäre Wirecard wird immer undurchsic­htiger.“

 ?? FOTO: PETER KNEFFEL/DPA ?? Oberstaats­anwältin Anne Leiding bei der Pressekonf­erenz am Mittwoch: „Die sehr intensiven Ermittlung­en der Staatsanwa­ltschaft München I haben ergeben, dass der den Beschuldig­ten zur Last gelegte Sachverhal­t noch einmal ganz erheblich erweitert werden muss.“
FOTO: PETER KNEFFEL/DPA Oberstaats­anwältin Anne Leiding bei der Pressekonf­erenz am Mittwoch: „Die sehr intensiven Ermittlung­en der Staatsanwa­ltschaft München I haben ergeben, dass der den Beschuldig­ten zur Last gelegte Sachverhal­t noch einmal ganz erheblich erweitert werden muss.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany