Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Denkmäler sind meine Arbeiten auf keinen Fall“
Leutkircher Künstlerin Anne Carnein zu menschlichen Zügen in ihren Pflanzen aus getragenen Kleidungsstücken
LEUTKIRCH - Man muss näher heranrücken, um die Feinheiten und Details in ihren Arbeiten erkennen zu können. Anne Carnein näht in mühevoller Handarbeit zarte, fantasievolle Pflanzen samt Wurzelwerk. Im Ateliergespräch mit Antje Merke erzählt die 38-Jährige, wie sich die Corona-Krise auf ihre Kunst auswirkt und was sie momentan am meisten vermisst.
Frau Carnein, zuerst eine Frage, die in Zeiten der Pandemie naheliegt: Wie geht es Ihnen?
Es geht mir sehr gut. Am Anfang war es ein bisschen schwierig. Die ersten zwei, drei Wochen haben mich ganz schön gelähmt. Alle paar Tage wurde eine Ausstellung abgesagt oder verschoben. Inzwischen hat sich das aber wieder eingespielt. Abgesehen davon bin ich ganz froh um die Ruhe, die ich jetzt habe. Denn die Organisation von Ausstellungen nimmt sehr viel Zeit in Anspruch, die mir dann zum Arbeiten fehlt.
Eine Krise ist ja auch immer eine Chance zur Selbstüberprüfung. Wie hat sich die Corona-Krise auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Meine Arbeiten sind farbenfroher geworden. Ich hatte plötzlich so eine Sehnsucht nach Farbe und nach Experimenten. Dadurch dass ich normalerweise an vielen Ausstellungen beteiligt bin und zugleich aber relativ langsam arbeite, bleibt mir oft gar nicht so die Zeit, um Neues auszuprobieren. Und das konnte ich jetzt mal in Ruhe tun. So haben sich aus den eher naturalistischen Motiven in zarten Farben fantastische in kräftigen Kontrasten entwickelt. Ich bin gespannt, wie sich das weiterentwickelt.
Sie haben bei Stephan Balkenhol studiert. Waren Textilien, Nadel und Faden für Sie eine Möglichkeit, sich von der Dominanz der Männer zu befreien?
Ich habe Kunst noch nie männlich oder weiblich gesehen. Das Textile hat sich für mich als Material einfach angeboten. Wenn ich überhaupt rebellisch war gegen diese männliche Dominanz an der Akademie, dann am ehesten noch mit der Größe meiner Arbeiten. Bei den männlichen Kollegen war das Motto immer: je größer umso besser. Das waren oft Materialschlachten mit viel Dreck und viel Lautstärke. Da habe ich mich mit meinen kleinen Arbeiten dagegengestellt.
Inzwischen werden unter dem Deckmantel der Kunstfertigkeit von Textilkünstlerinnen oftmals auch aufsässige Botschaften in die Welt gesetzt. Stecken hinter Ihren zarten Pflanzen auch solche Botschaften? Oder sind sie eher ein Abbild der Natur?
Nein, aber da steckt schon mehr dahinter. Meine Werke aus getragenen Kleidungsstücken entstehen ja aus der Erinnerung. Ich will die Natur nicht haargenau abbilden oder kopieren, sondern es sind vielmehr Fragen wie „wie funktioniert eine Wurzel“oder „wie sichtbar ist das Unsichtbare“, die mich interessieren. So hatte ich vor einiger Zeit einmal die Idee, eine Erdbeer- und eine Kartoffelpflanze gegenüberzustellen. So etwas hat für mich dann schon einen politisch-gesellschaftlichen Hintergrund: einerseits dieser Luxus der schnell verderblichen Erdbeere und andererseits dieses Grundnahrungsmittel der Kartoffel. Jede Pflanze bei mir steht folglich schon für irgendwas.
Stehen sie auch für menschliche Züge? Oder wollen Sie mancher Pflanze, die vom Aussterben bedroht ist, ein Denkmal setzen? Denkmäler sind meine Arbeiten auf keinen Fall. Vielmehr stehen meine Pflanzen für Menschen. Wenn ich zum Beispiel eine halb verwelkte Rose unter einen Glassturz stelle, dann kommt da gleich so ein Schutzcharakter auf, aber auch das Motiv des Wegsperrens. Der Titel gibt oft Auskunft – wenn es einen gibt. Es ist auf jeden Fall immer ein relativ leises Bild für meine Gedanken, das sich dem Betrachter nicht gleich erschließt.
Mit dem Lockdown ging ja die Digitalisierung in allen Bereichen der Gesellschaft plötzlich rasant voran. Funktioniert das auch für Ihr Werk?
Ja, sogar ziemlich gut. Ich habe mir bereits im vergangenen Jahr eine Instagram-Geschichte ausgedacht und aus Resten jeden Tag eine kleine Blume zusammengesetzt. Und so ist über 20 Tage hinweg mein „Daily Flower Project“entstanden, das ich jeden Tag auf Instagram hochgeladen habe. Die jeweilige Arbeit war dann nur für 24 Stunden verkäuflich. Das hat ziemlich gut geklappt. So ähnlich habe ich auch während des Lockdowns gearbeitet: Für jeden Montag habe ich mir eine Farbe herausgesucht, ein Werk in dieser Farbe genäht und diese Arbeit dann auf Instagram hochgeladen. Das ganze Projekt ging über acht Wochen bis zu meiner ersten realen Ausstellung. Die Resonanz war riesig.
In welchen Momenten fühlen Sie sich besonders lebendig?
Wenn ich in meinem Atelier bin und in Ruhe arbeiten kann.
Was vermissen Sie derzeit am meisten?
Den richtigen Kontakt zu Künstlern – sei es bei Vernissagen, auf Kunstmessen oder bei Artist-in-Residence-Programmen. Also alles, was gesellig und am Rande meiner Arbeit stattfindet, was aber doch ganz wichtig
ist. Ich meine damit den Austausch mit Kollegen, Sammlern, Kunstfreunden, Gleichgesinnten.
Sie kommen ja ursprünglich aus Rostock, leben und arbeiten jetzt schon einige Jahre im Allgäu. War es für Sie nie eine Option, in eine Großstadt zu ziehen.
Oh ja, gerne. Ich bin zwar auf dem Land aufgewachsen, schätze die Natur um mich herum. Aber ich vermisse schon das kulturelle Leben. Allerdings könnte ich mir im Moment gar kein Atelier in einer Stadt leisten. Abgesehen davon wüsste ich auch nicht, welche Stadt überhaupt für mich infrage käme.
Aalen-Fachsenfeld:
Schloss Fachsenfeld: Kreative Köpfe, Vernissage, Fr., 19 Uhr. Friedrichshafen:
Kulturhaus Caserne, Innenhof: Stephanie von Hoyos: Immer wieder Papier, Vernissage, Fr., 19.30 Uhr.
Meßkirch:
Kreisgalerie Schloss Meßkirch: NSUnrecht und Widerstand im Spiegel der Kunst, die Vernissage kann im livestream unter www.landkreis-sigmaringen.de verfolgt werden, So., 11 Uhr. Mochental:
Galerie Schrade: Marion Eichmann „Happy Paper“, Vernissage, So. 13 Uhr.