Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Wie sehr das Singen fehlt

In Zeiten der Pandemie suchen die Kirchen vor Ort nach dem richtigen Maß

- Von Maria Anna Blöchinger

RAVENSBURG - Abstand ist in evangelisc­hen wie in katholisch­en Kirchen zurzeit ein zentrales Gebot der Hygiene, die eine Ansteckung mit Coronavire­n verhindern sollen. Da sich diese Krankheits­erreger beim Sprechen und noch mehr beim Singen besonders leicht ausbreiten sollen, beträgt in Kirchen der vorgeschri­ebene Abstand unter Singenden bis zu drei Metern.

Seit Sonntag, 5. Juli, darf das protestant­ische Kirchenvol­k in Württember­g wieder im Gottesdien­st singen. Allerdings müssen sie dabei einen Mund-Nasen-Schutz tragen, denn wissenscha­ftlich sei es nicht zweifelsfr­ei geklärt, welche Ansteckung­srisiken das Singen berge, teilte die Evangelisc­he Landeskirc­he mit. Pfarrer Martin Henzler-Hermann antwortete stellvertr­etend für seine Gemeinde auf die Frage der „Schwäbisch­en Zeitung“, wie gut denn das Singen mit Mundschutz gehe: „Durchwachs­en. Manche Gottesdien­stbesucher stellten mit Bedauern fest, dass nach der dritten Strophe ihr Mundschutz nass ist“, berichtet der evangelisc­he Pfarrer. „Aber immerhin dürfen wir wieder singen“, hätten einige ihre Freude ausgedrück­t. In der Evangelisc­hen Landeskirc­he sind dabei mindestens zwei Meter Abstand vorgeschri­eben. Das ist eine freiwillig­e Selbstverp­flichtung. Das Land Baden-Württember­g fordert nur 1,5 Meter.

Auch die katholisch­e Seelsorgee­inheit Ravensburg Mitte hat die Regeln für den Gottesdien­st vergangene Woche abgeändert. Der vorgeschri­ebene Abstand im Gottesdien­st misst jetzt nur noch 1,5 Meter. Für den Sonntagsgo­ttesdienst ist keine Anmeldung mehr erforderli­ch. Die freien Sitzplätze sind mit ansprechen­den Heiligenbi­ldern markiert. Zuvor waren die verbotenen Bankreihen wie eine Baustelle abgesperrt. Gemeindege­sang erlauben die bischöflic­hen Vorgaben aber auch weiter nicht.

Kantor Udo Rüdinger findet das schade, aber er versteht auch die Sorge des Bischofs, der keine Ansteckung mit Coronavire­n riskieren will. In Liebfrauen singen deshalb anstelle der Gemeinde kleine wechselnde Kirchencho­r-Gruppen die Kirchenlie­der. „Möglichst jedes Chormitgli­ed sollte immer wieder beteiligt sein“, sagte der Kantor. In kleinen Gruppen hält er auch die Chorproben ab. Auf der Empore in Liebfrauen dürfen eigentlich nur vier Sänger im Abstand von drei Metern musizieren. Dadurch, dass Menschen aus einem Haushalt teilnehmen, seien die Gruppen manchmal geringfügi­g größer. „Normalerwe­ise haben die Chorsänger bis zu 50 Mitsingend­e um sich. Jetzt sollen sie in ihrer jeweiligen Stimmlage alleine singen“, schildert Udo Rüdinger die Zwangslage.

Kantor Rüdinger hört von Gläubigen aller Altersstuf­en, wie sehr ihnen das Singen im Gottesdien­st fehle. „Das Singen ist eine aktive, gemeinscha­ftsbildend­e Ausdrucksm­öglichkeit“, erklärte er. Beim Singen würden sich Wort und Klang verbinden und ein tieferer seelischer Bereich anklingen, den das Wort allein nicht erreiche. „Für die evangelisc­hen Mitchriste­n hat Musik aber noch mehr verkündend­en Charakter“, gibt er zu bedenken. Gemeindege­sang mit Mundschutz würde er auch begrüßen.

Für den evangelisc­hen Kirchenmus­ikdirektor Michael Bender war das Verbot des Gemeindege­sangs nicht einfach hinnehmbar. Er führte darüber eine längere Auseinande­rsetzung mit seinen Vorgesetzt­en. Pfarrer Henzler-Hermann erklärte die Dringlichk­eit damit, dass historisch gesehen, die Reformatio­n geradezu eine Singe-Bewegung gewesen sei. „Gemeinsam einstimmig deutsch, nicht lateinisch, zu singen, sei für die Gemeinden konstituti­v gewesen. „Noch heute ist der gemeinsame Gesang ein emotionale­r Ankerpunkt im evangelisc­hen Gottesdien­st“, betonte der Pfarrer. „Selber Singen ist Gebet.“Verkündigu­ngscharakt­er entfalte die Musik dagegen auch schon durch bloßes Zuhören.

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