Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wo Kranke „gesundgebetet“werden sollen
In den Heilungsräumen Ravensburg beten Ehrenamtliche für Kranke – Ärztin kritisiert Konzept
RAVENSBURG - In Ravensburg gibt es eine Gruppe von Christen, die für die Genesung von Kranken betet. Die Ehrenamtlichen der sogenannten Heilungsräume Ravensburg beten in Teams aus zwei oder drei Mitarbeitern in den Räumen der katholischen Gemeinschaft Immanuel für die Heilung von Menschen. Dabei schrecken sie auch nicht vor schwerwiegenden Erkrankungen wie Krebs zurück. Eine Krebspatientin berichtet der „Schwäbischen Zeitung“von ihrer angeblichen Heilung durch das „Gesundbeten“, doch eine Religionswissenschaftlerin und eine Ärztin aus der Region kritisieren das Konzept und halten es in Teilen für gefährlich.
Die Heilungsräume Ravensburg sind nach Angaben von Vorstandsmitglied Sigrid Rauch ein seit 2006 bestehender Verein. Sie gehörten zum deutschlandweiten Verband der „Healing Rooms“(deutsch: Heilungsräume). 2004 hat der Verband einen Vortrag in Ravensburg veranstaltet. „Dadurch sind wir – Christen aus verschiedensten Konfessionen – dazu angeregt worden, den Auftrag von Jesus in Anspruch zu nehmen: Kranken die Hände aufzulegen und für sie um Heilung zu beten“, berichtet Rauch.
Kai Funkschmidt von der evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen erklärt, wie sogenannte Healing Rooms entstanden sind: Vor über 100 Jahren ist in den USA eine Heilungsbewegung in einer christlichen Tradition entstanden, die pfingstlerisch oder charismatisch genannt werde, weil hier besonders der Heilige Geist im Mittelpunkt der Frömmigkeit stehe. Diese Bewegung habe schon immer einen engen Zusammenhang zwischen Glaube und Heilung gesehen, erklärt auch die Pfarrerin und Weltanschauungsbeauftragte der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Annette Kick. Laut Internetseite der Healing Rooms gibt es deutschlandweit inzwischen 24 Heilungsräume.
Für die Heilungsräume Ravensburg sind nach Angaben des Vorstands aktuell 21 Mitarbeiter ehrenamtlich tätig. „Wir selber heilen nicht und maßen uns das auch nicht an. Wir sind überzeugt: Jesus ist der Heiler, der durch uns wirkt“, so die Mitarbeiter. Der Heilungsprozess sei kostenfrei. Pro Monat kämen bis zu 36 Menschen mit körperlichen Krankheiten wie Krebs und Rückenbeschwerden, ebenso häufig würden jedoch auch psychische Probleme wie Depressionen genannt.
Normalerweise, abseits der Corona-Pandemie, kommen Hilfesuchende persönlich in den angemieteten Raum des Vereins in der Schubertstraße – im Industriegebiet in Ravensburg-Süd. Noch bevor die Ehrenamtlichen den Kranken empfangen, beten sie und bereiten sich vor, wollen so erste Eindrücke oder Botschaften über den noch unbekannten Kranken erhalten, wie sie erklären. Daraufhin werde die Person geholt und befragt, wofür man in ihrem Sinne beten solle. Dann folge das Gebet und, wenn gewünscht, ein Segen. Seit Corona läuft alles per Telefonkonferenz.
Bei einem für die SZ-Recherche am Telefon gesprochenen Gebet wirken Rauch und ihre Kollegin sicher, auch wenn hörbar ist, dass sie improvisieren und kein vorgeschriebenes Gebet vorliegt. Sie scheinen überzeugt, Impulse von Gott zu erhalten. Beide agieren mit den Anrufern sehr persönlich und freundlich. Sie fordern die Heilung von Gott ein und rechnen fest damit. Dabei fragen sie im Laufe der Sitzung öfter nach, wie es mit den Schmerzen bei den Besuchern aussieht.
Eine Rentnerin, die sich als Geheilte sieht, ist 66 Jahre alt, kommt aus Überlingen, will ihren Namen aber nicht in der Zeitung lesen. Sie sei im Februar dieses Jahres zu den Heilungsräumen gekommen, weil sie unter chronischem Schnupfen litt, der auf die Bronchien schlug, wie sie erzählt. Sie sei erst bei den Heilungsräumen und dann beim Arzt gewesen. „Es war die Kombination von beidem, die mir geholfen hat, gesund zu werden. Das Heilungsgebet hat mir die seelischen Ursachen der Krankheit offenbart.“
Die Regionaldirektorin Ravensburg-Bodensee im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg, Renate Schepker, übt Kritik an der Aussage auf der Internetseite der Heilungsräume „Gott ist unser Arzt“. „Die Heilungsräume können den Arzt nicht ersetzen. Das Versprechen, zum Beispiel Krebsleiden zu heilen, ist aus ärztlicher Sicht fahrlässig, sofern durch den Besuch der Heilungsräume eine medizinisch erforderliche Behandlung aufgeschoben wird oder nicht stattfindet“, so Schepker. Ob seitens der Healing Rooms aktiv von medizinischen Behandlungen abgeraten werde, wisse sie nicht, „einige Einträge im Netz könnte man aber so verstehen“.
Rauch betont, dass die Heilungsräume nie jemandem raten würden, dass er die medizinische Behandlung abbrechen solle. Eine Frau aus dem Landkreis Biberach, die Brustkrebs hatte, erzählte im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“jedoch, dass sie nach ihren Besuchen in den Heilungsräumen nicht mehr zum Onkologen ging. „Die Krebserkrankung war für mich das schönste Geschenk, denn dadurch habe ich zu Gott gefunden. Innerhalb von fünf Monaten wurde ich fast vollkommen geheilt.“Sie fühle sich wieder gesund, auch wenn Folgeerkrankungen geblieben seien. Zudem betont sie, dass ihr die Mitarbeiter der Heilungsräume mehrmals geraten hätten, sich weiter ärztlich behandeln zu lassen.
Nicht helfen konnten die Ehrenamtlichen der Heilungsräume einer Frau aus Berg, die 2012 an Brustkrebs erkrankt war und inzwischen verstorben ist. Ihr Mann erzählt, wie 2016 festgestellt wurde, dass der Krebs in die Wirbelsäule gestreut hatte. Nach einer Operation sei seine Frau pflegebedürftig gewesen, sie hätten sich dann an die Heilungsräume gewandt. „Wir haben von dokumentierten Heilungen durch das Gebet erfahren und auf ein Wunder gehofft. Es war der Glaube meiner Frau, dass sie gesundgebetet werden kann, da die Schulmedizin ihr nicht mehr helfen konnte“, sagt er.
Die Erinnerung an die Heilungsräume sei bei ihm positiv: „Es war eine große Geborgenheit und ein Vertrauen da, die Menschen haben für sie gebetet und ihr Seelsorge gegeben.“Auch für ihn sei dies eine Entlastung gewesen. Dass seine Frau nicht geheilt werden konnte, enttäusche ihn, gibt er zu. „Es gibt keine Garantie auf Heilung, vieles verstehen wir nicht.“Er sei dankbar, dass es die Heilungsräume gebe und halte weiterhin Kontakt zu ihnen. Ob die Heilungsräume jemandem
Renate Schepker, Regionaldirektorin Ravensburg-Bodensee im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg helfen können, liegt nach Rauchs Ansicht an verschiedenen Faktoren: „Es ist gut, wenn die Beter an die Heilkraft Jesu glauben. Manchmal sind Hindernisse im Weg, wie Sünde oder Unvergebenes. Grundsätzlich kann Gott jedem helfen.“Trost bei Nichtheilung fände sie in dem Gedanken an das ewige Leben nach dem Tod.
Religionswissenschaftlerin Inken Prohl von der Universität Heidelberg sieht eine potenzielle Wirkung des Placeboeffekts bei den Healing Rooms: „Die medizinische Forschung gibt Anlass zu der Annahme, dass Heilung durch den Placeboeffekt erfolgen kann. Die Ritualforschung zeigt, dass dieser Effekt auch bei Heilungsritualen wirkt. Wir wissen aus der Erforschung kollektiv begangener Rituale zum Umgang mit Krankheiten und anderen Krisen, dass das Erlebnis der Gemeinschaft positive Effekte auf den Einzelnen hat.“
Prohl betont aber, dass nicht von einer bestätigten Wirkung gesprochen werden könne. Effekte seien je nach individueller Disposition und Schwere der Krankheit unterschiedlich und: „Wie die meisten religiösen Angebote haben auch die Heilungsräume sicher Nebenwirkungen.“
Auch Funkschmidt von der evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen zweifelt nicht daran, dass es den Kranken nach dem Besuch bei den Healing Rooms besser gehen kann. Er vermutet, dass es vielen Kranken helfe, wenn sich die Ehrenamtlichen „so intensiv und mit so viel Zeit und Ruhe um sie bemühen“. Dieses Ausmaß an Aufmerksamkeit könnten Ärzte nicht leisten. Gefährlich sei, wenn sich Kranke bei ausbleibendem Heilungserfolg ein schlechtes Gewissen machen, möglicherweise zu dem Schluss kommen, sie glaubten nicht genug daran. Zudem könne es passieren, dass Kranke ihre medizinische Behandlung abbrechen in der irrigen Überzeugung, damit völliges Vertrauen zu Gott zu beweisen. Das übersehe, sagt Funkschmidt, dass Gott auch durch Medizin und Ärzte wirke.
„Die Heilungsräume können den Arzt nicht ersetzen.“