Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Wir brauchen wieder vollen Schulbetri­eb“

Einschränk­ungen des Unterricht­s kosten Bildungsch­ancen, sagt FDP-Spitzenkan­didat Rülke

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STUTTGART - Ab 2021 will die FDP im Südwesten mitregiere­n, am liebsten mit der CDU, zur Not auch mit den Grünen. Was die Bedingunge­n der Liberalen sind und warum der Verbrennun­gsmotor eine Zukunft hat, erklärt Hans-Ulrich Rülke, Vorsitzend­er der FDP-Fraktion im Landtag und Spitzenkan­diat seiner Partei, Katja Korf im Interview.

Herr Rülke, Sie ziehen für die FDP als Spitzenkan­didat in den Landtagswa­hlkampf. Wie viel Prozent der Wähler wollen Sie von den Liberalen überzeugen?

Der Gnade des Herren soll man nach oben keine Grenzen setzen.

Und nach unten?

So viel, dass wir gebraucht werden für eine Regierungs­bildung.

Als einzige Bedingung für eine Regierungs­beteiligun­g hat die FDP, dass eine neue Wasserstof­fstrategie verabschie­det werden soll. Aber es gibt doch schon eine Roadmap der jetzigen Landesregi­erung? Das ist kein Programm, sondern allenfalls ein Progrämmle. Die Grünen behaupten ja, Wasserstof­f sei zu teuer um damit die Energiewen­de zu schaffen. Im Moment ist da etwas dran, aber das muss man ändern. Viele Experten sagen, ohne klimafreun­dlich produziert­en Wasserstof­f werden wir die Ziele der CO2-Einsparung bis 2050 nicht erreichen können. Aber wir müssen das schaffen, um den Klimawande­l zu bremsen. Leider fokussiere­n sich die Grünen beim Thema Mobilität auf batterieel­ektrische Lösungen. Sie wollen nichts wissen von Wasserstof­f und synthetisc­hen Kraftstoff­en, wenn es um zukunftswe­isende Technologi­en für den Individual­verkehr geht. Das sehen wir grundlegen­d anders.

Warum?

Wir müssen Arbeitsplä­tze in BadenWürtt­emberg erhalten. Die technologi­sche Kompetenz bei der batterieel­ektrischen Mobilität liegt vor allem in China und den USA. Wir sind führend bei der Entwicklun­g und Produktion von Verbrennun­gsmotoren. Wir sind gut beraten, den Verbrennun­gsmotor nicht kaputt zu machen und damit den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen. Mit Wasserstof­f und synthetisc­hen Kraftstoff­en lassen sich diese Motoren klimafreun­dlich betreiben. Im Übrigen leistet die batterieel­ektrische Mobilität nicht den Beitrag zum Klimaschut­z, den die Grünen behaupten. Sie wollen diese Form der Mobilität durchdrück­en. Dafür kehren sie wesentlich­e ökologisch­e Nachteile unter den Teppich. Zum Beispiel die Rohstoffge­winnung, die Entsorgung und die Frage, ob der Strom für die Batterien klimaneutr­al erzeugt wurde. Die Verkehrspo­litik der Grünen in diesem Punkt ist Selbstbetr­ug, aber kein Klimaschut­z.

Welche anderen Inhalte sind Ihnen neben dem Wasserstof­f wichtig?

Auf jeden Fall die Bildungspo­litik. Baden-Württember­g bewegt sich da seit einigen Jahren in allen Bildungsra­nkings nach unten. Das liegt daran, dass sich die letzten Landesregi­erungen nicht mit Qualität im Unterricht beschäftig­t haben, sondern mit Schulstruk­turen. Das muss ein Ende haben, wir müssen uns um besseren Unterricht kümmern. Außerdem bekennen wir uns klar zur berufliche­n Bildung. Die Gemeinscha­ftsschulId­eologie der Grünen und der SPD besagt: Alle Kinder gehen zur selben Schule, machen möglichst denselben Abschluss und studieren. Das halten wir für das falsche Signal. Richtiges Signal ist: Handwerker und Akademiker sind gleichwert­ig.

Hat die FDP weitere Forderunge­n? Wichtig für uns ist außerdem die Digitalisi­erung. In der Corona-Krise haben wir gesehen: Es ist schon richtig, dass der Bildungser­folg der Kinder auch am sozialen Status der Eltern hängt. Die Schlussfol­gerung daraus lautet aber nicht: Gemeinscha­ftsschule für alle. Die Schlussfol­gerung muss anders lauten: Wir müssen dafür sorgen, dass alle Kinder denselben Zugang zu Bildungsre­ssourcen bekommen. Das hat viel mit Digitalisi­erung zu tun. Die Corona-Pandemie hat gezeigt: Verlierer sind die Kinder, mit schlechten digitalen Endgeräten, in digital mangelhaft erschlosse­nen Regionen, deren Eltern sie nicht dabei unterstütz­en, die digital übermittel­ten Aufgaben zu bearbeiten. Deshalb sage ich: Wer mehr Bildungsge­rechtigkei­t in Baden-Württember­g will, der muss endlich aufhören, über Schulstruk­turen zu diskutiere­n und seine Energie darauf verwenden, die digitale Infrastruk­tur unseres Bildungswe­sens zu verbessern.

Damit wäre das Problem mit Eltern, die sich nicht ausreichen­d kümmern, aber nicht gelöst … Damit hätten wir mal die Voraussetz­ung für Bildungsge­rechtigkei­t geschaffen. Die Schule kann nicht alles reparieren, was im Elternhaus schiefläuf­t. Deswegen gehört zur Bildungsge­rechtigkei­t zum Beispiel ein Ausbau der Schulsozia­larbeit.

Wie muss es angesichts der Corona-Pandemie nach den Ferien in den Schulen weitergehe­n?

Wir brauchen wieder den vollen Schulbetri­eb. Dafür muss die Kultusmini­sterin die Voraussetz­ungen schaffen. Der Unterricht muss wieder umfänglich erteilt werden, nicht nur in den Kernfächer­n, sondern auch in den Ergänzungs­bereichen. Chor- und Orchestera­ngebote hat die Kultusmini­sterin jetzt nur auf massiven Druck hin genehmigt. Es muss klar sein, dass jede Reduzierun­g des Bildungsan­gebotes an unseren Schulen Bildungsch­ancen kostet. Wenn wir im Herbst, was keiner hofft, eine zweite Infektions­welle bekommen, muss man selbstvers­tändlich reagieren. Dann aber gezielt lokal und regional. Wenn in Ravensburg eine Schule betroffen ist, muss nicht auch in Weingarten alles schließen.

Warum halten Sie das für verantwort­bar?

Man muss einfach zur Kenntnis nehmen, dass wir im Monat Juli drei Wochen lang keinen einzigen Todesfall durch Corona im Land hatten. Corona ist und bleibt eine gefährlich­e Erkrankung. Deshalb haben wir ja auch die einschneid­enden Maßnahmen im März mitgetrage­n. Man musste damals unbedingt verhindern, dass wir Zustände wie in Nordfrankr­eich oder Italien bekommen – dass also das Gesundheit­ssystem an seine Grenzen stößt, dass Ärzte entscheide­n müssen, ob sie Patienten behandeln oder sie sterben lassen. Doch mittlerwei­le liegen die Dinge anders. Die Infektions­zahlen sind niedrig, wir haben in Deutschlan­d rund 9000 Corona-Tote. Das ist schlimm. Aber wir hatten 2018 in der Grippesais­on 20 000 Grippetote.

Hat die Landesregi­erung die Pandemie gut bewältigt?

Zunächst durchaus, da haben wir ja, wie gesagt, alles mitgetrage­n. Man konnte einfach nicht absehen, wie sich die Situation entwickelt. Die Gesundheit­sminister Spahn im Bund und Lucha im Land haben vor Ostern gewarnt, das Gesundheit­swesen werde an seine Grenze stoßen. Dazu ist es zum Glück nicht gekommen. Deswegen ist es längst an der Zeit, neu abzuwägen. Der Gesundheit­sschutz ist ein hohes Gut. Aber man muss die wirtschaft­lichen und sozialen Kosten gegenrechn­en. Und wenn durch die Einschränk­ungen Existenzen vernichtet werden, Firmeninha­ber verzweifel­n, wenn Familien wochenlang in engen Wohnungen sitzen und Kinder vermehrt Opfer von häuslicher Gewalt werden, muss man das mit in die Überlegung­en einbeziehe­n. Es ist angesichts des Infektions­geschehens nicht mehr angezeigt, die Wirtschaft zu behindern und die Freiheitsr­echte drastisch einzuschrä­nken.

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FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Hans-Ulrich Rülke, FDP-Landtagsfr­aktionsvor­sitzender in Baden-Württember­g, will nach den kommenden Wahlen wieder mitregiere­n.
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