Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Flügelkämpfe
AfD-Schiedsgericht urteilt über Ausschluss von Kalbitz – Ruhe bringt das nicht in die Partei
BERLIN - Der Showdown in Stuttgart soll ohne Parteiöffentlichkeit stattfinden. Wenn das AfD-Schiedsgericht am Samstag in mündlicher Verhandlung über den Rauswurf von Brandenburgs AfD-Fraktionschef Andreas Kalbitz sprechen will, stehe wegen Corona kein „ausreichend großer Sitzungssaal“zur Verfügung, erklärt das Parteigericht.
Ärger dürfte es aber auch ohne Öffentlichkeit geben, denn der Streit um den Rechtsextremisten Kalbitz entzweit die Partei. Vor „Auflösungserscheinungen“und Zerfall warnte kürzlich der Brandenburger KalbitzVize Steffen Kubitzki.
Die Lage ist ernst: Die erfolgsverwöhnten Populisten lassen seit Monaten in den Umfragen Federn, mittlerweile sind sie oft nur noch einstellig. Der Trend begann schon vor Corona, doch in der Virenkrise kann die AfD bisher nicht punkten. Und intern lähmt der chronische Kampf um Rechtsausleger Kalbitz, der einen grundsätzlichen Richtungsstreit offenlegt.
Egal wie die Sache ausgeht – die Gräben in der Partei werden wohl bleiben: Die Bundessprecher Jörg Meuthen und Tino Chrupalla pflegen längst ein Nicht-Verhältnis. Der Baden-Württemberger Meuthen hatte mit knapper Mehrheit den KalbitzRauswurf eingefädelt, den der Sachse Chrupalla für grundfalsch hält. Der Malermeister Chrupalla gilt als Fan des offiziell aufgelösten rechtsextremistischen „Flügels“der Partei. Wie stark die Partei bundesweit verflügelt ist, ist unklar: Der „Flügel“sei in der AfD seines Bundeslandes „längst der ganze Vogel“, unkte jüngst Brandenburgs oberster Verfassungsschützer Jörg Müller. Klar ist, dass die Flügelianer Björn Höcke in Thüringen und Andreas Kalbitz in Brandenburg Wahlerfolge einfuhren, während gemäßigte AfDler in Norddeutschland einstellig blieben. Für Chrupalla ist das ein klarer Auftrag: Weg von der bürgerlich angestrichenen Professorenpartei der frühen Jahre, hin zur ostdeutschen Fundi-Opposition mit völkischer Kraftrhetorik.
Der westdeutsche Wirtschaftsprofessor Meuthen hat sich zwar mit gelegentlichen Reden gegen das „linksrot-grün-verseuchte 68er-Deutschland“zwischenzeitlich bei den Rechten angedient, doch richtig warm wurden beide Seiten nie miteinander. Das gilt umso mehr, als dass niemand recht weiß, wo das Polit-Chamäleon Meuthen selbst ideologisch steht: Ist der frühere Zivi Wirtschaftsliberaler in der Tradition von Parteigründer Bernd Lucke? Oder ist die „demonstrative Harmlosigkeit“nur „Vermarktungsstrategie“, wie es die FAZ bereits 2019 vermutete?
Auf jeden Fall scheint Meuthen noch von Koalitionen der AfD beispielsweise mit der CDU zu träumen. So lange aber weite Teile der Partei vom Verfassungsschutz beobachtet werden, ist dies wohl ausgeschlossen. Meuthen redet deswegen das Rechtsextremismusproblem klein. Die wenigen habe man im Griff, wie der Rauswurf des Antisemiten Wolfgang Gedeon zeige. Die Zahl der Extremisten in der AfD liege im „einstelligen Bereich“, sagt er im Sommerinterview – der Verfassungsschutz rechnet mit Tausenden.
Es wird geunkt, der langjährige Parteichef schaue auf den Aufsteiger Chrupalla herab. Wie eine gütliche Trennung funktionieren könnte, weiß keiner. Selbst ein Kalbitz-Rauswurf am Montag dürfte die Lage nicht mehr befrieden, zumal Björn Höcke den Kalbitz-Gegnern bereits „Verrat“unterstellt und angekündigt hatte, die „Zerstörung unserer Partei“nicht zuzulassen. „Am besten wäre, wenn Meuthen einfach ginge“, sagt jemand aus der Spitze. Nicht erst die Causa Kalbitz hat viele verärgert. Auch die Gedankenspiele über eine Aufspaltung der AfD in ein bürgerliches und ein rechtes Lager und die Affäre um Parteispenden für Meuthen, die die
AfD knapp 270 000 Euro Bußgeld kostet, sorgten für Irritationen über den Europaabgeordneten.
Nun sind Führungsquerelen im „gärigen Haufen“(Gauland) AfD nichts Neues. In ihrer siebenjährigen Geschichte hat die Partei den Großteil ihrer Gründer verloren und zwei Bundeschefs vom Hof gejagt. In Landesund Regionalverbänden sind Zank, Austritte und Spaltungen Legion. Doch zwei Dinge stabilisierten die Partei immer wieder: Erstens eine die Fundamentalopposition verbindende Großlage wie die Euro- oder die Flüchtlingskrise, die die Streithähne verband. Zweitens frische Führungskräfte, die die ausgebrannten Spitzen ersetzen konnten. Beides ist derzeit nicht in Sicht.
Ausgerechnet in der Coronakrise hat die Partei ihren Kompass verloren: Mitte März beklagte Fraktionschefin Alice Weidel noch eine „Verharmlosung“des Virus und forderte einen Shutdown für Deutschland. Als der dann Realität war, forderte sie die schnelle Rückkehr zur Normalität. Beim ersten Rettungspaket im Bundestag enthielt sich die Partei, während bei den inzwischen weitgehend in sich zusammengefallenen Coronaprotesten anfangs AfD-Politiker mit Verschwörungsmythikern zusammen unterwegs waren. Nun will die Partei sich mit eigenen sozialpolitischen Positionen profilieren, doch auch das gestaltet sich schwierig.
Weidel steht in der Fraktion unter Druck, Abgeordnete werfen ihr mangelnde Führung vor. Ihr Co-Vorsitzender Alexander Gauland wirkt müde. Im Bundestag sitzt der einzige ExVorsitzende, den die Partei nicht in die Wüste geschickt hat, oft zusammengesunken in der ersten Reihe und man fragt sich manchmal, ob er schläft oder schlicht der Sache überdrüssig ist. Der 79-Jährige hat Meuthen offen für den Kalbitz-Rauswurf kritisiert – und hält sich inzwischen eine erneute Kandidatur für den Bundestag offen. Möglicherweise muss der Ehrenvorsitzende noch mal ran, denn im Spitzenquartett Weidel, Meuthen, Chrupalla und Gauland gilt er als Einziger als unbeschädigt.
Wie die Partei aus der Krise kommen soll, ist offen. Dass eine Entscheidung für oder gegen Kalbitz nicht reicht, ist den meisten klar. Mancher hofft, dass ein Fortgang der Coronakrise der AfD doch noch in die Hände spielt. Das wäre dann die Großlage, in der die Partei den Frust auf die Regierung nutzen könnte – und in der die internen Rivalitäten in den Hintergrund treten.