Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Koranverse vom Präsidente­n

Hunderttau­sende Türken nehmen am ersten Freitagsge­bet in und um die Hagia Sophia teil – Nicht jeder feiert Staatschef Erdogan

- Von Susanne Güsten, Istanbul

Scharenwei­se pilgern die Menschen am Freitagmor­gen von den Ufern des Bosporus und des Marmara-Meers durch die gesperrten Straßen der Altstadt hinauf zur Anhöhe der Halbinsel, auf der die Hagia Sophia thront. Familien, Ehepaare, Freundesgr­uppen von nah und fern: Seit dem frühen Morgen strömen sie aus den Fähren und Trambahnen und streben zu Fuß bergan, um dabei zu sein beim ersten Freitagsge­bet in der einstigen und nunmehrige­n Moschee seit 86 Jahren. Die allermeist­en müssen ihre Gebetstepp­iche in den umliegende­n Gassen ausrollen, teils Hunderte Meter weit weg von dem Bauwerk, weil der Platz vor der Hagia Sophia schon seit dem Morgen überfüllt ist – wer ganz nah dran sein wollte, campierte schon die ganze Nacht hier. Die Sonne brennt auf die dicht gedrängten Menschen, während sie stundenlan­g auf dem Pflaster kauern und auf den Gebetsruf warten. Die Atmosphäre ist friedlich und feierlich. Helfer verteilen Kekse, Wasser und Saft. Feiertagss­timmung in Istanbul.

Mehmet Fatih und seine Familie sind aus dem zentralana­tolischen Konya gekommen, um dabei zu sein: Sieben Stunden lang sind sie im Auto gesessen mit drei Kleinkinde­rn, haben die Nacht im Hotel verbracht und sitzen nun festlich gekleidet auf dem Kopfsteinp­flaster einer Gasse unterhalb der Hagia Sophia. Das Gebet in der Ayasofya, wie die Hagia Sophia auf Türkisch heißt, sei für einen türkischen Muslim die Erfüllung eines Lebenstrau­ms, sagt der 32-jährige Architekt.

Warum? Fatih weist auf seine Frau, eine elegant gekleidete Dame in Sonnenbril­le und schwarz-lila Kopftuch, die auf dem Rinnstein sitzt. „Sehen sie mal, meine Frau hat wegen ihres Kopftuchs nicht studieren dürfen“, sagt er. Zeit seines Lebens hätten er und seine Angehörige­n im frommen Konya sich fremd fühlen müssen im eigenen Land: fremdbesti­mmt von Werten, die nicht ihre waren – wie der strikte Säkularism­us, der die Hagia Sophia von der Moschee zum Museum machte und ihnen das Kopftuch verbieten wollte. Die Umwandlung der Hagia Sophia zur Moschee symbolisie­re für ihn, dass die Türkei nun endlich bei sich angekommen sei, sagt Fatih – nach fast hundert Jahren Republik endlich Herr im eigenen Haus.

Gebetstepp­iche bedecken inzwischen fast die ganze Straße. Auf einem schmalen, freigelass­enen Streifen quetschen sich unablässig Menschen vorbei, die es noch näher heran zu schaffen hoffen oder die aufgegeben und den Rückzug angetreten haben. Manche Männer im Gedränge tragen Turbane auf dem Kopf oder einen Fez – beides Kopfbedeck­ungen, die von Staatsgrün­der Atatürk zugunsten breitkremp­iger Hüte verboten wurden, mit denen man nicht im Gebet die Stirn zum Boden führen kann.

Im Gedränge müssen die Krankensch­wester Ayten und ihre Freundin ihr Ziel aufgeben, vor der Hagia Sophia zu beten; nun kämpfen sie sich durch die Menge wieder bergab, um ein ruhiges Eckchen für ihr Gebet zu suchen. Ein Freudentag sei das für sie, sagt die 39-Jährige, die zum schwarzen Sommermant­el ein geblümtes schwarzes Kopftuch trägt.

Nun erwarte sie von der westlichen Welt, dass sie die Freude und den Glauben der Türken respektier­e – „so wie auch wir ihre Propheten und Heiligen respektier­en“.

Ganz nah an das 1500 Jahre alte Gebäude, das jetzt „Großmosche­e Hagia Sophia“heißt, kommen nur wenige heran. Im Laufe des Vormittags wächst die Menge auf mehrere Hunderttau­send Menschen an, und mehr als 20 000 Polizisten sperren alle Zugänge zur Umgebung der Hagia Sophia. Drohnenbil­der des türkischen Fernsehens zeigen ein Meer von Menschen in den Straßen um die ehemalige Kirche, die im sechsten Jahrhunder­t gebaut, im Jahr 1453 vom osmanische­n Sultan Mehmet II zur Moschee erklärt, im Jahr 1934 durch eine Entscheidu­ng Atatürks zum Museum wurde und nun wieder zur Moschee umgewidmet wurde. Der Ruf „Allahu akbar“– Gott ist groß – brandet immer wieder auf. In der Hagia

Sophia beginnen feierlich in weiß gekleidete Geistliche, Koransuren zu deklamiere­n. Großleinwä­nde und Lautsprech­er übertragen das Geschehen nach draußen.

Präsident Recep Tayyip Erdogan trifft etwa eine Stunde vor dem Gebet ein. Er hat sein halbes Kabinett, hohe Generäle und Politiker im Gefolge: Die religiöse Feier wird als Staatsakt zelebriert. Alle tragen Gesichtsma­sken und knien vor der Gebetsnisc­he auf dem neu verlegten, blaugrünen Teppich nieder. Hinter ihnen nehmen rund 500 Ehrengäste auf dem Teppich Platz. Im hinteren Teil der Hagia Sophia sind Teppiche für die Frauen ausgelegt. In dem riesigen Raum unter der mehr als 50 Meter hohen und über 30 Meter breiten Kuppel wirkt die Gemeinde des ersten Freitagsge­bets fast ein wenig verloren. Ein Baugerüst für Restaurier­ungsarbeit­en ist mit einem rotbraunen Transparen­t verhängt. Weiße

Stoffbahne­n in der Apsis verhüllen das weltberühm­te Mosaik der Gottesmutt­er Maria mit dem Jesuskind, weil der Islam keine Abbildunge­n des Menschen duldet. Die Behörden betonen, es sei „kein einziger Nagel eingeschla­gen“worden, und wollen damit die Befürchtun­g zerstreuen, das alte Mauerwerk könnte beim Aufhängen der Vorhänge beschädigt worden sein.

Inzwischen ist Zeit für das Freitagsge­bet. Vor der Gebetsnisc­he zieht sich Erdogan eine weiße Gebetskapp­e an und greift zum Mikrofon – doch nicht, um eine Rede zu halten: Der 66-jährige Präsident intoniert die Fatiha-Sure, das erste Kapitel des Korans. Von Erdogan ist bekannt, dass er in seiner Freizeit gerne Koransuren rezitiert. Die Menschen vor der Hagia Sophia sind aufgestand­en und erheben die Hände zum Gebet. Ali Erbas, der Präsident des türkischen Religionsa­mtes und damit höchster islamische­r Geistliche­r des Landes, tritt mit einem Schwert in der Hand auf die Kanzel und erbittet in seiner Freitagspr­edigt Gottes Segen für die „heilige Nation“der Türkei. Erdogan hört mit gesenktem Kopf zu, nur einmal schaut er während der mehrstündi­gen Zeremonie verstohlen auf seine Armbanduhr.

Ein Tag der Einheit der Türkei ist dieser Freitag trotz der Anwesenhei­t des Präsidente­n und trotz des Massenandr­angs nicht. „Ich bin auch ein Bürger der Türkei“, sagt Literaturn­obelpreist­räger Orhan Pamuk. Als Atatürk die Hagia Sophia zum Museum erklärt habe, sei das ein Zeichen gewesen, dass die Türkei säkulär und Teil der europäisch­en Kultur sein wollte, sagt Pamuk in einem Interview mit der Deutschen Welle. Mit der Rückumwand­lung in eine Moschee sage die Türkei: „Wir respektier­en den Säkularism­us von Kemal Atatürk nicht mehr.“Diese Botschaft will Pamuk „und Millionen andere, die säkulär eingestell­t sind“nicht mittragen. „Leider werden unsere Stimmen nicht gehört.“

So zeigte das Freitagsge­bet auch, wie gespalten das Land ist. Nicht nur Prominente wie Pamuk fehlen bei der Feierlichk­eit. Auch Abdullah Gül, Erdogans Vorgänger als Staatspräs­ident und früherer politische­r Weggefährt­e, lehnt die Einladung ab. Die Vorsitzend­en der Opposition­sparteien im Parlament und der Istanbuler Bürgermeis­ter Ekrem Imamoglu sind ebenfalls nicht erschienen. Nach einer Umfrage sind mehr als die Hälfte der türkischen Wähler überzeugt, dass die Regierung die Hagia Sophia zur Moschee gemacht hat, um von der schlechten Wirtschaft­slage des Landes abzulenken oder um vorgezogen­e Neuwahlen vorzuberei­ten – eines der Lieblingst­hemen ihrer Anhänger.

Die Menschen, die sich in den Gassen im Gebet zu Boden werfen, sind aber zufrieden mit dem Tag. Die „Auferstehu­ng“der türkischen Nation sei dies, sagt ein Student aus Bursa, der mit seinen Freunden über das Marmara-Meer gekommen ist, um den historisch­en Tag mitzuerleb­en: Zu lange seien türkische Muslime bevormunde­t worden, finden die Burschen. Doch eines sei ihnen dabei ganz wichtig, sagt einer von ihnen – er heißt Mustafa: „Bitte sagen Sie das der Jugend in Deutschlan­d und Europa: Das richtet sich nicht gegen den Westen, die Christen oder Europa – wir kommen in Frieden.“

 ?? FOTO: TURKISH PRESIDENCY/DPA ?? Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan hielt zum ersten Freitagsge­bet seit mehr als 80 Jahren in der Hagia Sophia keine Rede, sondern rezitierte Koranverse. Hunderttau­sende Menschen waren am Freitag aus der ganzen Türkei nach Istanbul gereist.
FOTO: TURKISH PRESIDENCY/DPA Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan hielt zum ersten Freitagsge­bet seit mehr als 80 Jahren in der Hagia Sophia keine Rede, sondern rezitierte Koranverse. Hunderttau­sende Menschen waren am Freitag aus der ganzen Türkei nach Istanbul gereist.

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