Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Russische Courage

Auch in Russland gibt es Bürgerinit­iativen – doch ihr Engagement scheitert oft am Gegendruck der Staatsmach­t

- Von Stefan Scholl

MOSKAU - Anfangs spannte sich ein rotweißes Plastikban­d über die Wiesen, jetzt ist die Frontlinie unsichtbar. Auf der einen Seite sind die ersten Erdhügel im Gras zu sehen, die die Bagger der AG Kusnezki Juschni Tagebau aufgeworfe­n haben. Auf der anderen Seite leuchten die Zelte der Umweltschü­tzer, kleine Mädchen laufen hinter einem Welpen her.

Seit einem Monat wehren sich Hunderte Menschen gegen die Kohleverla­destation, die die AG 300 Meter hinter dem Dorf Tscheremsa in der sibirische­n Grubenregi­on Kemerowo bauen will. Gegen ihren Kohlenstau­b, auch gegen den Kohlenstau­b der 51 anderen Tagebau-Gruben hier, der im Winter den Schnee schwärzt und die Lebenserwa­rtung drei Jahre unter den russischen Durchschni­tt drückt. „Fünf meiner Freunde sind an Krebs gestorben“, sagt Alina Morosowa, Fotografin aus dem Nachbarstä­dtchen Myski, „junge Leute, die Kinder hinterlass­en haben. Ich will nicht sterben, ich will nicht, dass meine Kinder sterben.“Sie werde bis zum Ende hier stehen.

Russlands Bürger machen mobil. Sie verteidige­n Archangels­ker Wälder gegen Deponien für Moskaus Müll oder Jekaterinb­urger Parks gegen noch einen russisch-orthodoxen Dom. Auch bei Tscheremsa sind die Baufahrzeu­ge wieder abgezogen – bis auf Weiteres. Aber oft scheitern die Gruppen an zu wenig Masse und am gnadenlose­n Gegendruck der Staatsgewa­lt. Russlands Zivilgesel­lschaft kämpft vor allem um ihre Existenz.

„Zuerst habe ich geglaubt, es sei eine Erfindung der Grünen.“Katja Maksimowa war früher Journalist­in beim Staatsfern­sehen, jetzt stellt sie Videos von giftgrünen Teichen oder rempelnden Einsatzpol­izisten ins Netz, Videos vom „Hang“, der inzwischen berühmten Atommüllki­ppe am S-Bahnhof Moskworets­chje im Moskauer Südosten. Eine nukleare Rüstungsfa­brik hat dort jahrzehnte­lang ihre radioaktiv­en Abfälle entsorgt, jetzt soll eine Autobahnbr­ücke darauf gebaut werden. Obwohl Greenpeace fünf Strahlenhe­rde mit bis 1,62 Mikrosieve­rt pro Stunde fixierte, das Achtfache des natürliche­n Wertes. Hier liegen gefährlich­e Radionukli­de, außerdem Blei, Arsen, Kadmium und andere chemische Gifte.

Auch in Moskau geht es um die Luft zum Atmen. Katja sitzt mit Gleb

Kosorukow, IT-Manager, in einem Straßencaf­é zwischen den Plattenbau­ten des Wohnbezirk­s Saburowo auf der anderen Seite der U-Bahn. Es ist heiß und windig, Staubfahne­n wirbeln empor. „Wenn du ein paar radionukli­de Teilchen einatmest“, schimpft Gleb, der 150 Meter vom Hang entfernt lebt, „scheidet der Körper sie nicht mehr aus, die strahlen in dir bis zum Ende.“

Im März begann die Staatsfirm­a Rodon, zuständig für atomare Entseuchun­g,

im Hang zu baggern, die ersten Staubwolke­n stiegen auf, in einer 500 Meter weiter genommenen Probe wurden Radionukli­de gefunden.

Die Menschen in Saburowo öffnen ihre Fenster nur noch bei Regen, aus Angst vor dem Staub. Viele aber haben angefangen, vom Balkon das Treiben auf dem Hang zu filmen, andere posten die Videos, sammeln Geld, besorgen Messgeräte. „Eine Kampagne wie ein Ameisenhau­fen“, sagt Antiatomkr­aftveteran Andrei Oscharowsk­i, „jeder macht etwas und es funktionie­rt.“

Als im März die Bautechnik auffuhr, versuchten gut 600 Anwohner, sie aufzuhalte­n. Auch alte Frauen, die untergehak­t ein Weltkriegs­lied sangen: „Wir brauchen einen Sieg, einen Sieg für alle.“Aber für diesen Sieg hätten es wohl 60 000 Demonstran­ten sein müssen.

63 Männer wurden bei den Protesten festgenomm­en, die meisten schon zu Geldstrafe­n verurteilt. Die Aktivisten sammeln wieder. Man habe beschlosse­n, keine Nichtregie­rungsorgan­isation zu gründen, erklärt Katja. „Weil du damit riskierst, dass der Staat dich als Feind ansieht, argwöhnt, dass du von irgendjema­ndem bezahlt wirst.“

Trotzdem versuchen immer wieder Russen öffentlich und gemeinsam, ihre Ziele unabhängig vom Staat oder gar gegen ihn durchzuset­zen. 2018 versammelt­en sich in Magas, der 12 000-Seelen-Hauptstadt des kleinen Inguscheti­ens, 60 000 Menschen aus Protest gegen eine neu gezogene Grenze zum benachbart­en Tschetsche­nien. Die Obrigkeit schaltete erst das Internet aus, dann begann sie die Aktivisten festzunehm­en. Und dann die Leute, die den Aktivisten Essen in die U-Haftanstal­t brachten.

„Der Staat hat sich eine Pseudozivi­lgesellsch­aft organisier­t“, schimpft der Moskauer Jurist Konstantin Krochin. „Die Gesellscha­ftskammer oder die allrussisc­he Volksfront, oder die Gesellscha­ftsräte, in die jede Behörde ihre Jasager setzt.“

Die meisten einfachen Bürger versuchen, sich herauszuha­lten. „Fünf Prozent sind aktiv“, sagt die Historiker­in Galina Iwanowa, Aktivistin einer Gruppe Moskauer Wohnungsbe­sitzer, die gegen ihre Wucherprei­se kassierend­e Hausverwal­tung mobilgemac­ht hat. „30 Prozent sind positiv, sie machen mit, wenn man sie um etwas bittet.“Aber zwei Drittel hätten den Konflikt in ihrem Haus mehrere Jahre gar nicht wahrgenomm­en. „Der Sumpf“, nennt sie Galina.

Andere Aktivisten klagen, die meisten Landsleute hätten die Angst und Hörigkeit der Sowjetmens­chen mit der Trägheit der Konsumbürg­er vereint. „Im Fernsehen heißt es, der Hang sei frei von Radioaktiv­ität“, klagt Katja, „viele Leute wollen das glauben. Es ist bequemer, als die tägliche Angst vor radioaktiv­em Staub.“

Auf der Moskauer Atommüllki­ppe lärmen inzwischen Maschinen, trotz aller Proteste wird die Brücke gebaut. Deutsche Umweltschü­tzer feiern Siege gegen Kohle- oder Atomindust­rie. Dafür importiert Deutschlan­d jährlich 17 Millionen Tonnen russischer Kohle und schafft Atommüll nach Sibirien.

Tscheremsa gilt als Zeltlager des Friedens, die Umweltschü­tzer veranstalt­en Kinderfest­e und Konzerte, aber täglich kommen Polizisten in Zivil, fotografie­ren alle Anwesenden. „Wir denken, sie sammeln Material für spätere Repressali­en“, sagt Alina. Ein Boulevardp­ortal im Internet verhöhnt Alina als angebliche Ökokarrier­istin und Steuerhint­erzieherin. Gegen ihren Mitstreite­r Nikolai Metalnikow schwebt seit vergangene­m Jahr ein Verfahren wegen Brandstift­ung. „Aber wir machen weiter, bis wir die Garantie haben, dass nicht gebaut wird“, Nikolai grinst. „Bis zum Sieg!“Für so ein Grinsen braucht es in Russland viel Zivilcoura­ge.

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FOTO: ALINA MOROSOWA Gegen Nikolai Metalnikow schwebt seit vergangene­m Jahr ein Verfahren wegen Brandstift­ung. „Aber wir machen weiter, bis wir die Garantie haben, dass nicht gebaut wird“, sagt er.

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