Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Russische Courage
Auch in Russland gibt es Bürgerinitiativen – doch ihr Engagement scheitert oft am Gegendruck der Staatsmacht
MOSKAU - Anfangs spannte sich ein rotweißes Plastikband über die Wiesen, jetzt ist die Frontlinie unsichtbar. Auf der einen Seite sind die ersten Erdhügel im Gras zu sehen, die die Bagger der AG Kusnezki Juschni Tagebau aufgeworfen haben. Auf der anderen Seite leuchten die Zelte der Umweltschützer, kleine Mädchen laufen hinter einem Welpen her.
Seit einem Monat wehren sich Hunderte Menschen gegen die Kohleverladestation, die die AG 300 Meter hinter dem Dorf Tscheremsa in der sibirischen Grubenregion Kemerowo bauen will. Gegen ihren Kohlenstaub, auch gegen den Kohlenstaub der 51 anderen Tagebau-Gruben hier, der im Winter den Schnee schwärzt und die Lebenserwartung drei Jahre unter den russischen Durchschnitt drückt. „Fünf meiner Freunde sind an Krebs gestorben“, sagt Alina Morosowa, Fotografin aus dem Nachbarstädtchen Myski, „junge Leute, die Kinder hinterlassen haben. Ich will nicht sterben, ich will nicht, dass meine Kinder sterben.“Sie werde bis zum Ende hier stehen.
Russlands Bürger machen mobil. Sie verteidigen Archangelsker Wälder gegen Deponien für Moskaus Müll oder Jekaterinburger Parks gegen noch einen russisch-orthodoxen Dom. Auch bei Tscheremsa sind die Baufahrzeuge wieder abgezogen – bis auf Weiteres. Aber oft scheitern die Gruppen an zu wenig Masse und am gnadenlosen Gegendruck der Staatsgewalt. Russlands Zivilgesellschaft kämpft vor allem um ihre Existenz.
„Zuerst habe ich geglaubt, es sei eine Erfindung der Grünen.“Katja Maksimowa war früher Journalistin beim Staatsfernsehen, jetzt stellt sie Videos von giftgrünen Teichen oder rempelnden Einsatzpolizisten ins Netz, Videos vom „Hang“, der inzwischen berühmten Atommüllkippe am S-Bahnhof Moskworetschje im Moskauer Südosten. Eine nukleare Rüstungsfabrik hat dort jahrzehntelang ihre radioaktiven Abfälle entsorgt, jetzt soll eine Autobahnbrücke darauf gebaut werden. Obwohl Greenpeace fünf Strahlenherde mit bis 1,62 Mikrosievert pro Stunde fixierte, das Achtfache des natürlichen Wertes. Hier liegen gefährliche Radionuklide, außerdem Blei, Arsen, Kadmium und andere chemische Gifte.
Auch in Moskau geht es um die Luft zum Atmen. Katja sitzt mit Gleb
Kosorukow, IT-Manager, in einem Straßencafé zwischen den Plattenbauten des Wohnbezirks Saburowo auf der anderen Seite der U-Bahn. Es ist heiß und windig, Staubfahnen wirbeln empor. „Wenn du ein paar radionuklide Teilchen einatmest“, schimpft Gleb, der 150 Meter vom Hang entfernt lebt, „scheidet der Körper sie nicht mehr aus, die strahlen in dir bis zum Ende.“
Im März begann die Staatsfirma Rodon, zuständig für atomare Entseuchung,
im Hang zu baggern, die ersten Staubwolken stiegen auf, in einer 500 Meter weiter genommenen Probe wurden Radionuklide gefunden.
Die Menschen in Saburowo öffnen ihre Fenster nur noch bei Regen, aus Angst vor dem Staub. Viele aber haben angefangen, vom Balkon das Treiben auf dem Hang zu filmen, andere posten die Videos, sammeln Geld, besorgen Messgeräte. „Eine Kampagne wie ein Ameisenhaufen“, sagt Antiatomkraftveteran Andrei Oscharowski, „jeder macht etwas und es funktioniert.“
Als im März die Bautechnik auffuhr, versuchten gut 600 Anwohner, sie aufzuhalten. Auch alte Frauen, die untergehakt ein Weltkriegslied sangen: „Wir brauchen einen Sieg, einen Sieg für alle.“Aber für diesen Sieg hätten es wohl 60 000 Demonstranten sein müssen.
63 Männer wurden bei den Protesten festgenommen, die meisten schon zu Geldstrafen verurteilt. Die Aktivisten sammeln wieder. Man habe beschlossen, keine Nichtregierungsorganisation zu gründen, erklärt Katja. „Weil du damit riskierst, dass der Staat dich als Feind ansieht, argwöhnt, dass du von irgendjemandem bezahlt wirst.“
Trotzdem versuchen immer wieder Russen öffentlich und gemeinsam, ihre Ziele unabhängig vom Staat oder gar gegen ihn durchzusetzen. 2018 versammelten sich in Magas, der 12 000-Seelen-Hauptstadt des kleinen Inguschetiens, 60 000 Menschen aus Protest gegen eine neu gezogene Grenze zum benachbarten Tschetschenien. Die Obrigkeit schaltete erst das Internet aus, dann begann sie die Aktivisten festzunehmen. Und dann die Leute, die den Aktivisten Essen in die U-Haftanstalt brachten.
„Der Staat hat sich eine Pseudozivilgesellschaft organisiert“, schimpft der Moskauer Jurist Konstantin Krochin. „Die Gesellschaftskammer oder die allrussische Volksfront, oder die Gesellschaftsräte, in die jede Behörde ihre Jasager setzt.“
Die meisten einfachen Bürger versuchen, sich herauszuhalten. „Fünf Prozent sind aktiv“, sagt die Historikerin Galina Iwanowa, Aktivistin einer Gruppe Moskauer Wohnungsbesitzer, die gegen ihre Wucherpreise kassierende Hausverwaltung mobilgemacht hat. „30 Prozent sind positiv, sie machen mit, wenn man sie um etwas bittet.“Aber zwei Drittel hätten den Konflikt in ihrem Haus mehrere Jahre gar nicht wahrgenommen. „Der Sumpf“, nennt sie Galina.
Andere Aktivisten klagen, die meisten Landsleute hätten die Angst und Hörigkeit der Sowjetmenschen mit der Trägheit der Konsumbürger vereint. „Im Fernsehen heißt es, der Hang sei frei von Radioaktivität“, klagt Katja, „viele Leute wollen das glauben. Es ist bequemer, als die tägliche Angst vor radioaktivem Staub.“
Auf der Moskauer Atommüllkippe lärmen inzwischen Maschinen, trotz aller Proteste wird die Brücke gebaut. Deutsche Umweltschützer feiern Siege gegen Kohle- oder Atomindustrie. Dafür importiert Deutschland jährlich 17 Millionen Tonnen russischer Kohle und schafft Atommüll nach Sibirien.
Tscheremsa gilt als Zeltlager des Friedens, die Umweltschützer veranstalten Kinderfeste und Konzerte, aber täglich kommen Polizisten in Zivil, fotografieren alle Anwesenden. „Wir denken, sie sammeln Material für spätere Repressalien“, sagt Alina. Ein Boulevardportal im Internet verhöhnt Alina als angebliche Ökokarrieristin und Steuerhinterzieherin. Gegen ihren Mitstreiter Nikolai Metalnikow schwebt seit vergangenem Jahr ein Verfahren wegen Brandstiftung. „Aber wir machen weiter, bis wir die Garantie haben, dass nicht gebaut wird“, Nikolai grinst. „Bis zum Sieg!“Für so ein Grinsen braucht es in Russland viel Zivilcourage.