Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
In Bedrängnis
Wieder erreichen Tausende Geflüchtete Italien – Mit ihnen steigt die Angst vor Corona
ROM - Mehrere Tausend neue Einwanderer in nur einer Woche: Italien ist erneut zum Ziel von Flüchtlingen aus Nordafrika geworden. Sie kommen vor allem aus Tunesien und Algerien – das ruhige sommerliche Meer macht eine Überfahrt nach Italien möglich. Mit der steigenden Zahl Geflüchteten steigt auch die Angst vor dem Coronavirus.
Die meisten dieser Menschen kommen mit ihren Booten auf der Insel Lampedusa und an der sizilianischen Südküste an. Dort sind die Auffanglager überfüllt. So überfüllt, dass am Montag das Gerücht umging, dass einige Hunderte Flüchtlinge wieder nach Tunesien und Algerien zurückgeschickt werden.
Die Folge war eine Massenflucht aus dem Auffanglager im südsizilianischen Porto Empedocle. Sie waren am Montag in der Hafenstadt aus ihrer Corona-Quarantäne in einem überfüllten, fensterlosen Zelt verschwunden. Bis Dienstag konnten die meisten der Geflüchteten wieder in das Lager gebracht werden. Doch der Umstand, dass noch einige Dutzend in der Umgebung unterwegs sind, löste bei der Bevölkerung Panik aus. Panik aufgrund der Furcht vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus. Diese Panik wird vor dem Hintergrund verständlich, dass ganz Süditalien seit Ausbruch der Pandemie glimpflich davongekommen ist, mit im Vergleich zu Norditalien erstaunlich wenig Infizierten und Opfern – auch wenn bei keinem der bisher Getesteten das Coronavirus entdeckt worden ist. Siziliens Regionalpräsident Nello Musumeci erklärte am Dienstag, dass „wir alles unternehmen werden, um alle Flüchtlinge auf das Virus zu testen, und dafür sorgen werden, dass Abstriche durchgeführt werden, um festzustellen, wer infiziert ist und wer nicht“.
Das Thema Flüchtlingsimmigration war in den vergangenen Monaten in Italien nicht akut. Vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie waren nur sehr wenige Flüchtlinge über das Meer nach Italien gekommen. Doch jetzt ist alles anders. „Jetzt kommen sie wieder, die Illegalen“, wetterte am Dienstag Matteo Salvini, Chef der rechtsnationalen Partei Lega und bis Sommer 2019 Innenminister. Er hatte eine scharfe Grenzkontrolle im Mittelmeer beschlossen und dafür gesorgt, dass Flüchtlingsboote und die Rettungsschiffe von Menschenrechtsorganisationen nicht mehr in italienischen Häfen anlegen dürfen. Seine Nachfolgerin Luciana Lamorghese schaffte die Vorschriften wieder ab. „Und die Folge“, so Salvini in Rom, „die kommen wieder wie die Heuschrecken“. Salvini nutzt den erneuten Anstieg der Flüchtlingszahlen zu einem neuen Angriff gegen die Regierung aus Sozialdemokraten und der Fünf-Sterne-Bewegung. Sie habe, so Salvini, „nichts gegen dieses Drama unternommen, das ja abzusehen war“.
Am Montag entschied das Innenministerium, dass in wenigen Tagen die Meeresgrenzen Italiens schärfer als bisher von der Marine und der Luftwaffe kontrolliert werden. Ziel sei die möglichst schnelle Rückführung aller illegalen Einwanderer – etwa nach Tunesien. Italien und Tunesien haben ein Abkommen, wonach das nordafrikanische Land nicht als Ausreiseland anerkannt wird, dessen
Bürger in Italien aufgenommen werden müssen. Die tunesische Regierung hat sich nach diesem Abkommen verpflichtet, flüchtige Bürger aus Italien wieder in die Heimat zurückzuholen. Die Situation in den süditalienischen Flüchtlingslagern ist dramatisch. Auf Lampedusa existiert nur eine Einrichtung für 95 Menschen, in der zurzeit rund 800 Personen untergebracht sind. Ähnliches gilt für die sizilianische Hafenstadt Porto Empedocle. Ida Carmina, Bürgermeisterin, ist verzweifelt. „In unserem Auffanglager leben 500 Menschen“, erklärte sie am Dienstag während einer Pressekonferenz, „in einer Struktur ohne Fenster, die nur für 100 Menschen geplant ist“. Ida Carmina forderte die Regierung und die Europäische Kommission zum Handeln auf.
Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International werfen der Regierung und den regionalen politischen Verantwortlichen vor, das Problem eines erneuten Anstiegs der Flüchtlingszahlen unterschätzt zu haben – und damit auch das Problem, dass durch möglicherweise infizierte Einwanderer entstehen könnte, die staatlichen Gesundheitskontrollen entgehen. Der Caritas Italiana zufolge werden nur zwei Drittel aller über das Meer kommenden Flüchtlinge von Behörden erfasst. Der Rest tauche unter und entziehe sich so einer Covid-19-Kontrolle.
Die neue Flüchtlingsproblematik spaltete die Regierung. Während sich die Sozialdemokraten für eine landesweite Unterbringung der Flüchtlinge aussprechen, fordert der Koalitionspartner, die Fünf-Sterne-Bewegung, deren sofortige Rückführung – und kommt damit den Forderungen der Lega entgegen. Regierungschef Giuseppe Conte hat sich zu dem Problem nicht geäußert.