Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wenn das Prinzip Hoffnung versagt
Stell dir vor, du hast Corona, und keiner will dich testen. Was im März wegen chaotischer Zustände häufig vorgekommen ist, sollte mittlerweile eigentlich kein Thema mehr sein. Es gibt derzeit angeblich mehr Testmöglichkeiten als ausgeschöpft werden, Schutzkleidung ist genug vorhanden, und die Zahl der Neuinfizierten ist im Kreis Ravensburg zwar wieder leicht steigend, aber noch überschaubar.
Im Grunde sind sich alle Akteure im Gesundheitswesen, Virologen, Epidemiologen und Politiker, einig: Nur wenn Infizierte schnell identifiziert und isoliert werden, können Infektionsketten durchbrochen und die weitere Verbreitung der Seuche verhindert werden, die in weniger glücklichen Ländern auf der Welt schon mehr als 700 000 Todesopfer gefordert hat. Aber das ist Theorie, die Praxis sieht anders aus. Das zeigt der Fall eines schwer erkälteten Ravensburger Ingenieurs, der vier Stunden lang mehr als 20 niedergelassene Mediziner angerufen hat, bevor er einen fand, der ihn testen wollte. Zum Glück war das Ergebnis negativ. Aber der Vorfall ist kein Einzelfall, wie Reaktionen im Netz zeigen von Menschen, denen es ähnlich ergangen ist. Manche, die nicht so beharrlich sind wie besagter Ingenieur, geben entnervt auf, lassen sich halt nicht testen und hoffen auf einen milden Verlauf – oder darauf, dass sie sich bloß eine harmlose Sommergrippe eingefangen haben.
Schuld an der Misere ist die Kassenärztliche Vereinigung, die Mitte Juli die Fieberambulanz in Weingarten geschlossen hat. Überdies veröffentlicht sie nicht einmal die Namen der wenigen Ärzte, die in Ravensburg und Umgebung Tests durchführen (sogenannte Corona-Schwerpunktpraxen). Das muss sich ändern, und zwar spätestens zu Beginn des neuen Schuljahres, wenn zurückkehrende Urlauber den Erreger in Großraumbüros und Schüler in den Klassenzimmern
zu verteilen drohen, wo ohne Abstand und ohne Maske unterrichtet werden soll.
Woraufhin dann im Worst-Case-Szenario eine nach der anderen Schule schließen wird. Die Stadt Ravensburg hat zumindest schon mal vorgesorgt und Hunderte Leih-Laptops für Kinder angeschafft, die vermutlich im Winter einen Teil der Zeit digital unterrichtet werden müssen. Endgeräte sind das eine, Didaktik das andere Problem: Einheitliche Konzepte für Online-Unterricht auf Landes- oder gar Bundesebene gibt es immer noch nicht. Manche Lehrer zeigen ihren technisch nicht so affinen Kollegen, wie man Dokumente in einer OnlineKonferenz am Bildschirm teilt, aber verpflichtend sind entsprechende Kurse nicht. Zudem sind nicht alle Schulen gleich gut ausgestattet. Wenn es zu Schulschließungen kommt oder einzelne Schüler in Quarantäne müssen und den Unterricht gern aus der Ferne verfolgen würden, wird Bildung dann zum Glücksspiel. Ist die entsprechende Schule so gut ausgestattet, dass Unterricht gestreamt werden kann? Und reicht die Internetgeschwindigkeit dafür, wenn ein Schüler auf dem Dorf wohnt?
Aber im Kultusministerium setzt man auf das Prinzip Hoffnung. Und auf eine Studie von vier baden-württembergischen Universitäten, die herausgefunden haben will, dass Kinder und Jugendliche nicht so ansteckend seien wie Erwachsene. Nur dass diese Studie im Lockdown entstanden ist, als eben diese Kinder und Jugendlichen keine Kontakte zu Gleichaltrigen haben durften und bei ihren Eltern zu Hause saßen. Folglich auch niemanden anstecken konnten. Anstatt fieberhaft in den Sommerferien an einem einheitlichen Konzept für Fernunterricht zu arbeiten, werden Lehrer ab Mitte September zu medizinischen Versuchskaninchen gemacht. Sie sind nicht zu beneiden. Trotzdem ein schönes Wochenende.