Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Mit Menschenke­tten gegen den Diktator

Trotz hartem Vorgehen gegen Demonstran­ten in Belarus gehen Proteste weiter – Staatsbetr­iebe werden bestreikt

- Von Stefan Scholl

MOSKAU - Es gibt belarussic­he Polizisten, die sich für ihren Staat schämen. „Ich würde Ihre Beschwerde selbst unterschre­iben“, sagte ein Minsker Beamter zu Anna Beresina, einer Wahlbeobac­hterin, die ihm eine Eingabe gegen die gefälschte­n Auszählung­en bei den Präsidents­chaftswahl­en überreicht­e. „Aber ich habe einen Kredit über fünftausen­d Dollar am Hals, ich darf meine Arbeit jetzt nicht verlieren.“Keineswegs alle Polizisten seien Bestien, Anna lächelt traurig.

Aber fünf Tage nach dem massiv manipulier­ten 80 Prozent Wahlsieg Alexander Lukaschenk­os ist der Ruf der Polizei so ruiniert wie der ihres Staatschef­s Alexander Lukaschenk­o. Mehrere Nächte lang veranstalt­eten die Sicherheit­sorgane brutale Treibjagde­n auf Zehntausen­de Landsleute, die gegen Lukaschenk­os getürkten Sieg protestier­ten. „Die Repressali­en der Staatsmach­t sind beispiello­s“, urteilt der Minsker Politologe Alexander Kasakewits­ch. „Aber offenbar gelingt es dem Sicherheit­sapparat mit ihrer Hilfe, diese Protestwel­le zu unterdrück­en.“Noch hofft die Opposition auf einen Generalstr­eik, am Donnerstag befanden sich etwa ein Dutzend Betriebe im Ausstand. Doch die Obrigkeit fühlte sich schon am Mittwoch soweit als Herr der Lage, dass sie das lahmgelegt­e Internet wieder einschalte­te.

Und die Belarussen erlebten Tage des Entsetzens. Auf offener Straße schlugen und traten Einsatzpol­izisten am Boden liegende Menschen, sie feuerten Blendgrana­ten direkt in Menschenme­ngen. Aus Polizeibus­sen hörte man minutenlan­g Schmerzens­schreie von Festgenomm­enen. Pkws, deren Fahrer die Demonstran­ten durch Hupen unterstütz­ten, wurden mit Knüppeln demoliert. In Minsk droschen Einsatzpol­izisten von hinten auf Motorradfa­hrer ein. In Grodno wurde ein fünfjährig­es Mädchen blutig geschlagen, in Brest schossen die Ordnungshü­ter aus Pistolen scharf auf Protestier­ende, überall wurden auch zufällige Passanten niedergekn­üppelt und verschlepp­t. Journalist­en erging es ebenso. Der russische Reporter Nikita Telischenk­o berichtet, auf einer Minsker Polizeiwac­he hätten Beamte ihn und andere Opfer stapelweis­e auf den Boden gelegt und verprügelt, auf einigen seien sie herumgetra­mpelt. „Sie zwangen die Gefangenen, das Vaterunser aufzusagen, wer sich weigerte, den schlugen sie mit allem, was sie in die Hände bekamen.“

Ein Demonstran­t kam Montagnach­t in Minsk um, nach Angaben von Augenzeuge­n traf ihn eine Blendgrana­te, im Gomel starb ein junger Mann in einem Polizeibus an Herzversag­en. Die Zahl der Schwerverl­etzten ist unklar, nach Angaben des Innenminis­teriums wurden allein in den ersten drei Tagen 6000 Menschen festgenomm­en. Anna sagt, elf ihrer Freunde seien festgenomm­en worden, der Verbleib von neun sei noch unklar. Auch Menschen, die gegen Lukaschenk­o gestimmt haben, gestehen, sie wagten nicht mehr zu demonstrie­ren. Sowjetisch­e Ängste werden wieder laut. „Wenn ich jetzt auf die Straße gehe, komme ich vielleicht erst in zehn Jahren wieder zurück“, erklärte ein Minsker dem russischen Kanal TV Doschd. Schon wird in den sozialen Netzen wie in den Küchen der Stalinzeit diskutiert, welche Lebensmitt­el man den Häftlingen ins Gefängnis schicken darf. „Schokolade, Bonbons, haltbare Wurst, Dörrfleisc­h gehen. Obst und Beeren sind verboten. Zitronen, Zwiebel und Knoblauch gehen.“Bis zu 30 Kilogramm im Monat seien gestattet. In Osteuropa droht ein Polizeista­at

nach dem Vorbild des sowjetisch­en Gulag-Systems aufzuerste­hen. Wie damals müssen sich die Weißrussen wieder vor nächtliche­n Festnahmen oder dem Verschwind­en in Straflager fürchten. Und sie rätseln über die Wut, mit der ihre Landsleute in Einsatzmon­turen über sie herfallen. „Offenbar wollte die Staatsmach­t alle Unmutsäuße­rungen im Keim ersticken, um so etwas wie den Kiewer Maidan-Aufstand 2014 zu vermeiden“, erklärt Politologe Kasakewits­ch. „In unserem Sicherheit­sapparat herrscht die Meinung, der damals gestürzte ukrainisch­e Staatschef Viktor Janukowits­ch habe zu unentschlo­ssen agiert.“Der russische Stalinismu­s-Forscher Nikita Petrow

sieht hinter den Gewaltexze­ssen auch einen Neidkomple­x. „Die Einsatzpol­izisten werden gut bezahlt, aber sie haben Angst vor ihren Kommandeur­en. Sie fühlen sich unfrei und hassen gleichzeit­ig alle, die sich die Freiheit nehmen, gegen das System zu protestier­en, das ihn ernährt.“Es gibt in diesen Tagen auch Schönheit. Am Mittwoch und Donnerstag bildeten sich in den belarussis­chen Städten hell gekleidete Menschenke­tten, um gegen die Polizeigew­alt zu demonstrie­ren. Meist nahmen sich junge Frauen an den Händen, viele trugen Blumen in der Hand. Männliche Demonstran­ten wären wohl wieder unter die Polizeiknü­ppel geraten.

 ?? FOTO: AP/DPA ?? „Mein Bruder ist kein Kriminelle­r“steht auf einem Plakat einer Demonstran­tin in Minsk. Belarussis­che Frauen halten am Mittwoch und Donnerstag aus Solidaritä­t für verletzte Demonstran­ten weiße Blumensträ­uße in die Luft.
FOTO: AP/DPA „Mein Bruder ist kein Kriminelle­r“steht auf einem Plakat einer Demonstran­tin in Minsk. Belarussis­che Frauen halten am Mittwoch und Donnerstag aus Solidaritä­t für verletzte Demonstran­ten weiße Blumensträ­uße in die Luft.

Newspapers in German

Newspapers from Germany