Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Schutzschild gegen den Ausverkauf
Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks sucht einen Nachfolger für Mariss Jansons – Zusammenlegung mit Rundfunkorchester befürchtet
MÜNCHEN (dpa) - Seit dem Tod von Mariss Jansons ist das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO) auf der Suche nach einem Nachfolger. Von den möglichen Kandidaten wird mehr erwartet als brillantes Musizieren.
Gute Karten könnte ein in Deutschland wohlbekannter Brite haben: Sir Simon Rattle. Zwar ist derzeit wegen der Corona-Pandemie kein regulärer Konzertbetrieb möglich. Doch war Rattle in der abgelaufenen Rumpf-Saison gleich dreimal in München zu Stelle, was von Beobachtern als Zeichen gewertet wurde, dass der frühere Chefdirigent der Berliner Philharmoniker beim BRSO zu den wichtigsten Thron-Aspiranten zählt. In den vergangenen Jahren musizierte er regelmäßig mit den
Münchnern, begann sogar einen konzertanten Zyklus mit Richard Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“.
Doch noch ist das alles nicht viel mehr als Spekulation. Sicher scheint nur, dass der neue Chef des BRSO noch während der 2021 zu Ende gehenden Amtszeit von BR-Intendant Ulrich Wilhelm bestimmt werden soll. Potenzielle Kandidaten für das Chefdirigenten-Amt würden derzeit intern ermittelt, verlautet offiziell aus dem Sender. Dem bekennenden Klassikfan Wilhelm sei „hier eine sorgfältige Abstimmung mit den Musikerinnen und Musikern des Symphonieorchesters wichtig. Es ist davon auszugehen, dass im Laufe der nächsten Monate eine Entscheidung gelingt“.
Aus dem Orchester ist zu hören, dass die Zusammenarbeit mit Rattle sehr gut funktioniere. Pluspunkte sind auch Rattles Faible für Kinderund Jugendprojekte zur Generierung
eines jüngeren Publikums sowie seine mediale Präsenz. Denn der von Jansons angeschobene neue Münchner Konzertsaal scheint trotz des jüngsten Bekenntnisses des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder nicht sicher zu sein, zumal mit Corona die öffentlichen Budgets dahinschmelzen. Da erhoffte man sich von Rattle, der sich gerade selbst als Chef des London Symphony Orchestra für einen neuen Konzertsaal an der Themse engagiert, tatkräftige Unterstützung.
Dass Rattle bislang immer nur ein Orchester leitete, mag kein entscheidendes Hindernis für sein Engagement in München sein. Er müsse ja nicht Chefdirigent werden, heißt es. Das Amt eines ersten Gastdirigenten wäre ja auch denkbar.
Rattle würde dann ein gewichtiger Interimschef, bis ein anderer Aspirant frei sei, den viele im Orchester für noch zukunftsträchtiger halten als den immerhin schon 65 Jahre alten Briten: den 45-jährigen Kanadier Yannick Nézet-Séguin, derzeit Musikchef der New Yorker Metropolitan Opera und Inhaber weiterer Chefposten in Philadelphia und Montreal. Ein zusätzlicher Job in Europa wäre selbst für den notorisch Vielbeschäftigten, der sich gerne in schrillen Anzügen zusammen mit seinem Lebenspartner Pierre Tourville präsentiert, kaum denkbar.
Sofort verfügbar wäre dagegen Franz Welser-Möst, seit 2002 Musikdirektor des Cleveland Orchestra. Der Österreicher, der gerade bei den Salzburger Festspielen mit Richard Strauss' „Elektra“begeisterte, zählt neben dem Briten Daniel Harding ebenfalls zu den möglichen JansonsNachfolgern.
Franz Welser-Möst versprüht zwar wenig Glamour, ist dafür aber ein sehr ernsthafter und versierter Kapellmeister. Ein wenig erinnert er an den langjährigen BRSO-Chef Sir Colin Davis, den stillen, noblen Briten, der von 1983 bis 1992 das BRSO leitete.
Doch das Orchester scheint eher darauf bedacht zu sein, seine internationale Bedeutung mit einem global tätigen Medienstar unterstreichen zu wollen. Nicht zuletzt, um mögliche Diskussionen einer Zusammenlegung von Symphonieorchester und Rundfunkorchester im Keim ersticken zu können. Denn die im Zuge der Pandemie sich verschärfenden Sparzwänge erfassen auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Der neue Chef, er soll auch ein Schutzschild gegen den Ausverkauf sein.