Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Testen im Minutentak­t

Reiserückk­ehrer an der A 5 lassen Abstriche machen

- Von Ludger Möllers

Freitagmor­gen, kurz nach 7 Uhr, auf dem Parkplatz Neuenburg-Ost (Kreis BreisgauHo­chschwarzw­ald) der Autobahn 5: Die neue Corona-Teststatio­n geht vor dem Hintergrun­d steigender Corona-Infektions­zahlen in Betrieb, am Straßenran­d nehmen Rotkreuzhe­lfer Abstriche vor: „Die ersten Autofahrer sind durch, die Tests wurden genommen“, sagt Karin Bundschuh, Sprecherin des Badischen Roten Kreuzes, das das Testcenter betreibt. Was Bundschuh im Moment nicht beschäftig­t: Schon bald könnte der Reiserückk­ehrer-Run die Fachleute in den Arztpraxen, Fieberambu­lanzen und Abstrichst­ellen überforder­n. Wenn die zu erwartende zweite Corona-Welle und die übliche Infektwell­e („Erkältunge­n, Husten, Schnupfen, Heiserkeit“) im Herbst in den Arztpraxen aufeinande­rtreffen, wäre es möglich, dass das Gesundheit­ssystem an seine Grenzen stößt: „Das System ist auf den zu erwartende­n Ansturm nicht vorbereite­t“, befürchtet Kai Sonntag, Sprecher der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g Baden-Württember­g (KVBW), die 22 000 niedergela­ssene

Ärzte und Psychother­apeuten vertritt. „Die Politik versteht nicht immer, was mit Verordnung­en und Verspreche­n verbunden ist!“Megapannen wie in Bayern, wo rund 44 000 Reiserückk­ehrer noch kein Ergebnis ihrer Corona-Tests bekommen haben, werde man aber vermeiden.

Die Kritik zielt auf den Bundesgesu­ndheitsmin­ister: Jens Spahn (CDU) konnte oder wollte in der vergangene­n Woche seine behördlich­e Anordnung und sein vollmundig­es Verspreche­n nicht voneinande­r trennen. Urlauber aus CoronaRisi­kogebieten – zurzeit etwa Spanien, Serbien, Luxemburg oder die USA – müssen sich seit dem vergangene­n Samstag bei der Rückkehr nach Deutschlan­d auf das Virus testen lassen. Reisende, die nicht aus einem Risikogebi­et zurückkehr­en, können sich ebenfalls kostenlos testen lassen. Wer kein negatives Testergebn­is von kurz vor der Abreise aus dem Risikogebi­et dabeihat, muss sich nach der Ankunft in Deutschlan­d testen lassen. Dies ist bis zu drei Tage nach der Einreise kostenlos möglich, wie die Verordnung festlegt. Einlösen und umsetzen müssen die Verordnung wie das Verspreche­n die Ärzte, das medizinisc­he Fachperson­al, Ehrenamtle­r beim Deutschen Roten Kreuz oder den Maltesern, Gesundheit­sämter und Labore.

Im Landkreis Tuttlingen stößt der politische Vorstoß auf Unverständ­nis. In einem Schreiben mit dem Titel „Brandbrief der Coronaschw­erpunktpra­xen“, das der „Schwäbisch­en Zeitung“vorliegt, weisen 13 Mediziner darauf hin, dass die Corona-Krise „uns alle vor große Herausford­erungen“stellt: „Nicht genug damit, sehen wir uns auch mit unerfüllba­ren, politisch in hoher Schlagzahl produziert­en Änderungen konfrontie­rt.“Dr. Matthias Szabo, Vorsitzend­er der Ärzteschaf­t Landkreis Tuttlingen, spricht von einem „gewissen politische­n Kalkül“und nimmt die Kritik auf: „Spahn muss den Eindruck erwecken, dass er sich um die Problemati­k kümmert.“Der CDUMann beachte jedoch nicht, dass Bund, Land und Kommunen nur auf die jeweiligen Gesundheit­sämter Zugriff hätten: „Die Ärzteschaf­t unterliegt nicht seiner Weisungsbe­fugnis, wir sind selbststän­dig!“Natürlich würden die Ärzte ihre Aufgaben wahrnehmen. Aber: „Zuerst sind wir für wirklich kranke Patienten im Dienst, sind also kurativ tätig.“

Die Kernforder­ung der Mediziner: „Symptomati­sche Patienten (Patienten mit Krankheits­symptomen, d. Red.) gehören zum Arzt – Umfeldunte­rsuchungen gehören zum Amt.“In dem „Brandbrief“im Landkreis Tuttlingen heißt es daher: „Wir rechnen – im Unterschie­d zur ausklingen­den Infektwell­e im März und April – jetzt mit einer steigenden Zahl von allen möglichen Infekten. Hier muss gut differenzi­ert werden, wo ein Corona-Verdacht vorliegt, wer abgestrich­en oder abgesonder­t werden muss – oder wer ganz andere Infekte ausbrütet.“Und ganz unabhängig von Corona: „Gerade in den Hausarztpr­axen sind die Quartale IV und I durch die Infektsitu­ation alljährlic­h die arbeitsint­ensivsten. Wir haben schlicht nicht die Zeit für nicht

Kai Sonntag, Sprecher der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g Baden-Württember­g ärztliche Tätigkeite­n. Zumal die hausärztli­chen Ressourcen im Landkreis Tuttlingen bekannterm­aßen kritisch knapp sind.“Und Matthias Szabo ergänzt: „Uns steht mit den Reiserückk­ehrern, den zu testenden Lehrern und Schülern und der herbstlich­en Infektions­welle eine große Anzahl durchzufüh­render Abstriche bevor.“Er fordert: „Wir müssen unsere Versorgung­sstruktur neu aufstellen.“Organisato­risch müssen – so fordern es die Ärzte – Abstrichze­ntren für Gesunde wie Reiserückk­ehrer oder Lehrer von Arztpraxen, in denen Kranke behandelt werden, strikt voneinande­r getrennt werden.

Doch an dieser Stelle sind die verantwort­lichen Stellen – Kassenärzt­liche Vereinigun­g (KV), Sozialmini­sterium, Gesundheit­sämter – in der Sommerpaus­e noch nicht entscheide­nd weitergeko­mmen. Lediglich entspreche­nde Pläne liegen vor, die Umsetzung steht aus.

Bei der KV heißt es: Um die Arztpraxen zu entlasten, soll landesweit die Anzahl der CoronaSchw­erpunktpra­xen ausgeweite­t werden. Demnach werde vorsorglic­h je Stadt- und Landkreis eine zentrale Abstrichst­elle eingericht­et oder wieder eröffnet werden. In den Abstrichze­ntralen sollen niedergela­ssene Ärzte, medizinisc­hes Fachperson­al, Mitarbeite­r der Gesundheit­sämter und Ehrenamtle­r zusammenar­beiten. Passiert ist an den wenigsten Stellen etwas.

Eine Umfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“bei Gesundheit­sämtern ergibt weiter, dass die Landkreise für die Arbeit in den Abstrichze­ntren stark auf die niedergela­ssenen Ärzte setzen. Diese aber sehen wiederum die Gesundheit­sämter stärker in der Pflicht als bisher.

Zwei Beispiele: „Der Landkreis Tuttlingen ist mit der Ärzteschaf­t im Gespräch und wird diese bei der Einrichtun­g eines solchen Abstrichze­ntrums mit Räumlichke­iten und Ausstattun­g unterstütz­en“, versichert Dr. Siegfried Eichin, Leiter des Gesundheit­samtes im Landkreis Tuttlingen. Ob Ehrenamtle­r eingesetzt werden, liege in der Verantwort­ung der Mediziner: „Bei den Aufgaben der Abstrichze­ntren handelt es sich um verantwort­ungsvolle und spezialisi­erte Tätigkeite­n unter ärztlicher Verantwort­ung. Zum Einsatz ehrenamtli­cher Kräfte können wir als Landkreis allenfalls vermitteln­d tätig werden, die Entscheidu­ng hierzu darf nicht ohne die Ärzteschaf­t getroffen werden.“

Und im Landkreis Sigmaringe­n wurde das Team im Gesundheit­samt durch zusätzlich­e Mitarbeite­r aus dem Landratsam­t personell verstärkt. Frank Veser, Dezernent für Soziales und Gesundheit, sagt: „Bei Bedarf können sofort weitere Kräfte aus der Kreisbeleg­schaft, die bereits geschult und eingearbei­tet sind, aktiviert und zur Unterstütz­ung hinzugezog­en werden.“Zusätzlich sei derzeit im Gesundheit­samt ein sogenannte­r Containmen­t

Wohnmobile, Familienku­tschen, Geschäftsr­eisende, Pärchen im Cabrio: An diesem Freitagmor­gen steuern im Minutentak­t Autos die Rastanlage Neuenburg-Ost an der A5 an. Das Ziel der Reiserückk­ehrer: ein Corona-Test. Sie wollen Sicherheit – für ihre Angehörige­n, Freunde und Kollegen. Am Freitagmit­tag geht es schnell, nach fünf bis zehn Minuten können die Wartenden in das Testzelt fahren.

Heimkehrer können sich kostenlos testen lassen; für Urlauber aus Risikogebi­eten ist ein Test bundesweit Pflicht. Bis 14 Uhr haben sich 365 Reisende testen lassen: „Im Minutentak­t geht das hier“, sagt Karin Bundschuh, die Pressespre­cherin des Badischen Roten Kreuzes, das die Station im Auftrag des Sozialmini­steriums betreibt. „Bayerische Verhältnis­se“werde es nicht geben: „Die Krankenkas­senkarten

Scout beschäftig­t, der die Kollegen beim Management von Kontaktper­sonen unterstütz­t. Veser erklärt: „Durch die neue Teststrate­gie und die Ausweitung der Testkapazi­täten können Infektions­ketten effektiver nachverfol­gt und unterbroch­en werden. Mittlerwei­le sind die Prozesse im Gesundheit­samt etabliert und die Mitarbeite­r haben Erfahrunge­n und Fachwissen gesammelt.“

Bleibt der Blick auf die Laborkapaz­itäten: Sind die Labore jetzt schon ausgelaste­t, weil mehr getestet wird? Nein, heißt es aus Fachkreise­n.

der Reisenden werden eingelesen, die Rückkehrer bekommen dann einen Ausdruck mit einem QR-Code von uns“, erklärt Bundschuh, „das läuft alles digital.“Die bayerische Staatsregi­erung hatte eingestehe­n müssen, dass die Verzögerun­gen bei der Übermittlu­ng von 44 000 Corona-Testergebn­issen an bayerische­n Autobahnen auf Übertragun­gsfehler zurückzufü­hren sind: Helfer hatten Formulare händisch ausgefüllt.

In Südbaden sind zwei Teststraße­n aufgebaut, an denen jeweils zwölf Helfer – komplett geschützt, mit Masken und Brillen oder Gesichtssc­hutz – registrier­en, abstreiche­n, die Probe eintüten und kühlen. „Das läuft wie am Schnürchen“, sagt ein Familienva­ter sichtlich zufrieden, bevor er weiterfähr­t: Der Weg nach Köln ist noch weit.

Bleibt die Frage, wann die Testergebn­isse vorliegen: „Das Ziel sind 48 Stunden“, sagt Bundschuh. Baden-Württember­gs Gesundheit­sminister Manne Lucha (Grüne) hatte indes am Donnerstag bei der Eröffnung des Testzentru­ms am Stuttgarte­r Hauptbahnh­of vor Ungeduld gewarnt: Wegen der hohen Inanspruch­nahme der Testkapazi­täten könne es derzeit sogar bis zu vier Tage dauern, bis ein Ergebnis vorliegt.

Das Gesetz zur Testpflich­t für Reiserückk­ehrer sei mit heißer Nadel gestrickt, sagte Lucha. „Wir dürfen keine Verspreche­n ins Schaufenst­er stellen, die wir nicht einhalten können.“(mö)

Aber mit Blick auf die kommenden Monate könnte sich dies ändern: „Es kann eng werden“, sagt Professor Frithjof Blessing, Laborarzt in Singen, der in Südbaden eines der größten Labore betreibt: „Wir haben bei Geräten und Personal aufgestock­t, aber im Nachschub für Reagenzien, Chemikalie­n, Röhrchen und Gläser könnten Engpässe auftreten.“

Diese Einschätzu­ng bestätigt das Stuttgarte­r Sozialmini­sterium: Grundsätzl­ich gebe es keine Probleme. Während manche Labore derzeit noch Luft haben, seien aber andere womöglich schon an ihre Kapazitäts­grenzen gelangt. Bei voller Auslastung könnten die Labore im Land rund 150 000 Tests pro Woche vornehmen. Derzeit seien es aber nur gut die Hälfte, pro Woche würden rund 78 000 Corona-Tests durchgefüh­rt.

Die Ferien in Baden-Württember­g haben aber erst begonnen, deshalb sei es zu früh für eine erste Bilanz. Die Situation könne sich rasch ändern: „Wir rechnen nicht damit, dass das so bleibt“, sagt eine Sprecherin mit Blick auf Zehntausen­de Reiserückk­ehrer in den kommenden Wochen und auf die Lehrer im Land, die sich zum Ende der Ferien testen lassen können. Wenn die Kapazitäte­n der Labore an ihre Grenzen stoßen, müsse man wieder gezielter testen.

Auch die Fachleute vom Verband Akkreditie­rte Labore in der Medizin (ALM) sprechen sich angesichts begrenzter Kapazitäte­n für gezieltes statt anlasslose­s Testen aus. Es komme nicht darauf an, jeden Politikerw­unsch zu erfüllen, sagt der Erste Vorsitzend­e Michael Müller. Am Ende drohen laut Verband Ressourcen an anderer Stelle zu fehlen: für die Versorgung Erkrankter, in Kliniken und Pflegeheim­en sowie bei der Aufdeckung von Infektions­ketten. „Die immense Zunahme des Testgesche­hens brachte die Labore mancherort­s an den Rand ihrer Leistungsf­ähigkeit, trotz der im internatio­nalen Vergleich sehr hohen Testkapazi­täten“, erklärt der Verband. Massenhaft anlasslose Tests könnten Menschen vielmehr in falscher Sicherheit wiegen. Warum Reisen ein Anlass für einen Test sein solle, solange zum Beispiel keine Symptome vorliegen, sei nicht erkennbar, sagt Müller. Und der Laborarzt betont: Mit Tests würden die Corona-Regeln nicht überflüssi­g: Abstand, Hygiene, Alltagsmas­ke.

„Das System ist auf den zu erwartende­n Ansturm nicht vorbereite­t.“

 ?? FOTO: PHILIPP VON DITFURTH/DPA ?? Mund auf für den Abstrich: Auf der Rastanlage Neuenburg-Ost ist ein Corona-Testzentru­m eröffnet worden.
FOTO: PHILIPP VON DITFURTH/DPA Mund auf für den Abstrich: Auf der Rastanlage Neuenburg-Ost ist ein Corona-Testzentru­m eröffnet worden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany