Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ein Konzert als Experiment
Mediziner simulieren bei Bendzko-Auftritt Corona-Sicherheitsszenarien für Großveranstaltungen
LEIPZIG/HALLE (dpa) - Der Sommer ist eigentlich die Jahreszeit der Musikfestivals, der Stadtfeste und Sportevents – doch in diesem Corona-Jahr ist alles anders. Großveranstaltungen wie etwa Konzerte mit Tausenden Menschen sind nach Vorgaben der Politik noch bis mindestens Ende Oktober untersagt, wenn Kontaktverfolgung und Einhalten von Hygieneregeln nicht möglich sind. Die Bundesländer können aber Ausnahmen zulassen. Erste Veranstalter peilen daher die Rückkehr von Konzerten an.
In Düsseldorf etwa startete jüngst der Vorverkauf für ein Großkonzert mit Rocker Bryan Adams und Sängerin Sarah Connor. Bis zu 13 000 Zuschauer sollen dafür am 4. September im Fußballstadion Platz finden. Auch die Berliner Waldbühne will an diesem Tag wieder für ein Konzert öffnen – wenn auch nur mit bis zu 5000 Plätzen. Vor leeren Rängen müssen aber vorerst weiter die Clubs der Fußball-Bundesliga spielen. Längst ist daher eine Debatte über das richtige Maß entbrannt: Wie müssen Großveranstaltungen aussehen, ohne dass sich gleich große Ausbruchsherde bilden? Forscher der Uniklinik Halle wollen – in einem deutschlandweit wohl einzigartigen Experiment unter dem Titel „Restart-19“– zumindest für geschlossene Veranstaltungsräume Antworten auf diese Frage finden.
Dazu sollen am kommenden Samstag (22. August) bis zu 4000 freiwillige, gesunde Probanden zu einem Popkonzert des Sängers Tim Bendzko („Nur noch kurz die Welt retten“) kommen. Die Konzertbesucher sollen an diesem Tag möglichst das tun, was sie auch sonst bei einem Konzert täten: zur Bühne laufen, auf die Toilette gehen, Getränke kaufen ...
„Wir wollen untersuchen, wie viele Kontakte die Teilnehmer untereinander während des Konzerts haben – das ist nämlich noch unklar“, erklärt Studienleiter Stefan Moritz. „Und dann wollen wir noch herausfinden, wo genau die meisten Kontakte stattfinden.“Das könne zum Beispiel am Eingang oder auf den Tribünen sein. Dafür planen die Forscher mit einem großen technischen Aufwand: Jeder Teilnehmer bekommt einen sogenannten Contact Tracer umgehängt – ein Gerät, das ständig den Abstand zu anderen Personen misst. Damit und mit Sensoren unter der Hallendecke lassen sich Bewegungsdaten erheben.
Außerdem soll fluoreszierendes Desinfektionsmittel ausgegeben werden. „Wir können dann nach der Veranstaltung
mit UV-Lampen sehen, welche Flächen besonders intensiv leuchten, also auch besonders oft angefasst wurden“, sagt der Infektiologe. So ließen sich Flächen identifizieren, die künftig bei Veranstaltungen etwa besonders oft desinfiziert werden müssten, um Schmierinfektionen zu vermeiden. Eine weitere Teilanalyse beschäftigt sich mit dem Flug von Aerosolen – also kleinster virushaltiger Partikel in der Luft. Dazu haben die Wissenschaftler die Arena samt Raumlüftungssystem in einem Computermodell nachgebaut. „Mit einer Strömungssimulation des Programms können wir dann den Flug dieser Aerosole nachvollziehen“, erklärt Moritz. „Auf diese Weise wissen wir dann grundsätzlich, wo weht die Aerosolfahne in dieser Arena hin.“
Insgesamt wollen die Forscher während des Experiments so drei Konzertsituationen simulieren – inklusive der An- und Abreise, denn auch die Straßenbahnen vor der Arena sind verkabelt. Ein Szenario ist die Konzertsituation aus der Vor-Corona-Zeit, die beiden weiteren Szenarien werden mit verschieden strengen Schutzkonzepten simuliert – etwa mit größeren Abständen und mehr Hallenzugängen. Stefan Moritz: „Durch den Vergleich aller drei Szenarien können wir herausfinden, wie stark sich Kontakte durch verschiedene Sicherheitsmaßnahmen vermeiden lassen.“Alle erhobenen Daten sollen dann zusammen mit weiteren Parametern zum Coronavirus in ein mathematisches Modell fließen, mit dem das Risiko eines Corona-Ausbruchs nach einer Großveranstaltung in Hallen bewertet werden kann. Erste Ergebnisse werden im Herbst erwartet.
Auch der Leipziger Epidemiologe Markus Scholz blickt gespannt auf das Experiment seiner Kollegen aus Halle. Er gibt aber zu bedenken, dass die erhobenen Daten allein wohl nicht ausreichen werden, um sagen zu können, wie eine Großveranstaltung künftig sicher ablaufen könnte. „Unbekannt ist zum Beispiel noch: Wie weit fliegen Tröpfchen oder Aerosole beim Singen oder beim Sprechen – und wie ansteckend sind diese dann“, erklärt Scholz. Es bleibe immer ein Restrisiko – auf Basis der neuen Daten entwickelte Konzepte könnten aber helfen, dieses zu verringern.
Von einer Rückkehr zu Großveranstaltungen rät der Leipziger Forscher ab. Eine zweite Welle zeichne sich deutlich ab. „Ich sehe daher aktuell keinerlei Spielraum für weitere Lockerungen – auch und gerade nicht für Großveranstaltungen“, sagt Scholz. Vielmehr habe die Absage dieser Events zu Pandemiebeginn geholfen, den exponentiellen Anstieg der Infiziertenzahl zu durchbrechen. „Diese Maßnahme sollte daher nur mit besonderer Vorsicht zurückgenommen werden“, mahnt Scholz.
Der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit betont dagegen, die Gesellschaft müsse lernen, mit dem Virus zu leben. „Daher sollten wir uns Gedanken machen, wie und in welchem Rahmen auch größere Veranstaltungen möglich sind.“Der Experte hält eine Rückkehr zu Großveranstaltungen grundsätzlich für möglich, etwa indem Besucher vor einem Konzert – zwar unter großem Aufwand – getestet werden. Auch die Besucher des Leipziger Bendzko-Experiments müssen vor der Veranstaltung einen Corona-Test machen. Wer ein positives Ergebnis hat, Symptome zeigt oder sich zuvor in einem Risikogebiet aufgehalten hat, darf nicht teilnehmen. Eine Übertragung durch Tröpfchen und Aerosole sollen FFP2Masken verhindern, die jeder Teilnehmer tragen muss. Die Wahrscheinlichkeit, sich am 22. August mit Sars-CoV-2 zu infizieren, sagt Studienleiter Moritz, sei sehr gering.