Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Sich selbst im Ehrenamt weiterentwickelt
Nach dem Abitur lebte Linus Schweizer für ein Jahr in der „Arche“in Indien
RAVENSBURG - Die „Arche“ist eine internationale christliche Organisation, in der Menschen mit und ohne Behinderungen zusammenleben. Gegründet 1964 von Jean Vanier, ist sie heute mit 151 Gemeinschaften in 37 Ländern vernetzt. Seit 1998 gibt es eine Gemeinschaft in Ravensburg. 2014 ging Linus Schweizer für ein Jahr zum Ravensburger Partner ins indische Chennai, zu Asha Niketan, dem „Heim der Hoffnung“.
Eine Gemeinschaft von Betreuern und körperlich wie geistig Behinderten, die meisten Autisten, die alle sehr personalintensive Hilfe brauchten. „Vom ersten Tag an war ich aufgenommen in dieser völlig anderen Welt, die mich komplett forderte. Nach unserem Lebensstil ist es mir schwergefallen, diese ganz andere Armut zu begreifen. Kleiner, demütiger musste ich werden, um ein Gefühl zu bekommen, wie ein anderes Leben sein kann.“
Linus Schweizer erfuhr ihm bislang unbekannte Widersprüche: materielle Armut. Er trug selten Schuhe. Besitz gab es kaum. Und doch waren diese Menschen reich an Gefühlen, an Zuneigung allen gegenüber, die zu erfahren er als Glück begriff. Zerbrechliches Glück, als er erfuhr, dass diese Menschen auch eingesperrt worden waren, manche bis heute. Kein indisches Phänomen. Aber in diesem Land kamen ihm die Gedanken hoch an die deutsche Vergangenheit. Die Psychiatrie in Weißenau, die Grauen Busse. Was macht einen behinderten Menschen schlechter? Er ist doch viel liebevoller. Er durfte dieselben Arbeiten machen wie die indischen Partner und machte, gerade in diesem Umfeld, die für ihn befremdliche Erfahrung, dass er als Weißer für „besser“gehalten wurde.
Noch befremdlicher, sich selbst gerade hier besser kennenzulernen und zu spüren, dass er diese Bevorzugung für Momente gerne annahm. „Aber es kann schnell passieren, dass es ‚normal‘ wird. Meine angebliche ‚Höherwertigkeit‘ spürte ich auch immer wieder in der Gastfreundschaft.“Diese Ungleichheit, erfuhr Linus Schweizer in seinem Jahr in Indien, zieht sich bis heute durch die Beziehungen zwischen dem Norden und dem Süden.
Was war dieses Jahr, reflektiert er bis heute in seinem Studium. Was habe ich mitgenommen? „Ja, ich habe gearbeitet, ganz unten in der Gesellschaft, habe prägende Lebenserfahrungen gemacht. Doch ein Stück weit ist es auch egoistisch, in so ein Land zu gehen, denn primär habe ich mich persönlich weiterentwickelt.“Die Fragen und die Antworten sind von globaler Relevanz: Er hat Armut gelebt. „Wie kann Wirtschaft funktionieren, ohne jemanden auszubeuten? Auch im Kleinen. Das hat definitiv mit den Beziehungen dieses Landes zu Indien zu tun.“Wie bewertet man ein Unternehmen? Sein Ziel ist es, „ein soziales Unternehmen zu leben, und nicht nur auf der Website zu propagieren“.
Was bedeutet Nachhaltigkeit, fragt Linus Schweizer im Gespräch, sechs Jahre nach seinem Freiwilligen Sozialen Jahr? Auf wen wirkt sie sich aus? Auf alles und alle, die in einem meist vielschichtigen System eines Unternehmens, einer Auslandsbeziehung, beteiligt sind? Ist sie ganzheitlich oder selektiv? „Ich habe gelernt, wie das indische Kastensystem funktioniert. Was sind unsere Kasten? Wie entstehen die, wie wirken die unseren? Hat dies mit der Veränderung der Wirtschaft zu tun? Mit den Business Schools und den kleinen Zirkeln, die daraus entstehen?“
Linus Schweizer studiert Ingenieurswissenschaften, in denen viel „Fortschritt“entwickelt wird, der für den Planeten oft einen hohen Preis hat. Sein Jahr in Indien, schrieb er in seinen Erinnerungen, „wird immer ein Teil von mir sein und mir nie verloren gehen“. Deshalb interessiert er sich für Ethik in Technischen Wissenschaften, für „Social Enterpreneurship“, also für unternehmerische Projekte in sozialem Kontext. Damit „Entwicklung“soziale Zielrichtungen bekommt. Global.
In einem Mikrokosmos ist Asha Niketan, das Projekt von Linus Schweizer in Chennai, eine solche Hoffnung: Hindus, Muslime und Christen leben in dieser Gemeinschaft in Frieden zusammen. Fünf Jahre nach seinem Freiwilligen Sozialen Jahr in Indien ist dies in diesem kulturell und religiös diversen Land zunehmend die Ausnahme. Die hindu-nationalistische Regierung unter Premierminister Rajendra Modi schürt den Hass gegen die Muslime.
Die Gemeinschaft mit behinderten Menschen bekommt vom Staat keine Unterstützung. Das ist die Regel. Doch der Rüstungsetat in Indien wurde in den vergangenen 15 Jahren verdoppelt, von 30 auf 70 Milliarden Dollar. Rajendra Modis Priorität sind nicht die Armen, sondern das indische Weltraumprogramm.