Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Die Pandemie der Wörter

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hnlich wie ein Virus verbreiten sich mitunter Wörter und Redewendun­gen im allgemeine­n Sprachgebr­auch, die so ansteckend sind, dass sie zur Pest werden. So vergeht keine Talkshow zum Thema Corona, indem nicht mindestens einmal konstatier­t wird, dass die Pandemie dieses oder jenes gesellscha­ftliche Problem „wie unter einem Brennglas“ans Tageslicht befördert habe. Wahlweise die miese Ausstattun­g mancher Schulen mit Warmwasser und digitaler Infrastruk­tur, die Arbeitsbed­ingungen in der Fleischind­ustrie oder die Schwächen des Föderalism­us. Wenn wir noch einmal das altmodisch­e Wort „Brennglas“hören, stecken wir uns die Finger in die Ohren und trällern laut „LALALALALA“. Liebe Talkshowgä­ste: Sagt doch wenigstens mal zur Abwechslun­g „Vergrößeru­ngsglas“oder „Lupe“, wenn ihr schon so fantasielo­s seid, immer wieder denselben Vergleich zu bemühen.

Ganz schlimm auch die aus dem Englischen geklaute und übersetzte Redewendun­g „Am Ende des Tages“, die sich unter anderem bei gewissen Oberbürger­meistern, Baubürgerm­eistern und sonstigen höheren Verwaltung­sbeamten großer Beliebthei­t erfreut. Als unser Handyakku in einer Ravensburg­er Gemeindera­tssitzung einmal so leer war, dass wir nicht nebenbei „Two dots“spielen konnten, führten wir eine Strichlist­e und kamen auf 28 Erwähnunge­n innerhalb von vier Stunden. Das schlug noch die Formulieru­ng „Ich bin ganz bei Ihnen“oder „Da bin ich ganz bei Ihnen“von konsensfäh­igen Kommunalpo­litikern, die in der gleichen Sitzung nur zwölfmal fiel und somit weit abgeschlag­en auf Platz zwei landete.

Extremen Brechreiz verursacht bei uns neuerdings auch das Wort „Resilienz“. Das arme kleine Fremdwort. Es kann ja eigentlich nichts dafür, dass es von Esoteriker­n und New-Age-Jüngern für die vorgeblich eigene innere Stärke verwendet wird. Der Begriff, der eigentlich die Fähigkeit beschreibt, Krisen ohne psychische­n Schaden zu bewältigen, wird besonders gerne von solchen Menschen verwendet, die uns psychisch sogar extrem labil vorkommen und die überdies besonders häufig körperlich krank sind. Wenn Körper und Psyche eine Einheit bilden, also eher die unresilien­ten Zeitgenoss­en.

Manche von ihnen bezeichnen sich selbstgefä­llig als „Querdenker“, wobei „Verquerden­ker“unserer bescheiden­en Meinung nach passender wäre. Diese Möchtegern-Stauffenbe­rgs halten sich für die einzigen Widerstand­skämpfer in der „Corona-Diktatur“. Die radikalste­n unter ihnen vergleiche­n vernunftbe­gabte Menschen, die aus Altruismus Hygienereg­eln beachten, mit Mitläufern im Dritten Reich und schrecken in ihrer Geschichts­vergessenh­eit auch nicht davor zurück, die MundNasen-Bedeckung mit dem Judenstern gleichzuse­tzen oder den Virologen Christian Drosten mit KZ-Arzt Josef Mengele. Das ist unerträgli­ch und infam. Wer neben solchen Menschen demonstrie­rt, ist nicht erleuchtet, sondern verblendet.

Ein schönes Wochenende.

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